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Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Titel: Mitternachtskinder: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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Tages im Januar 1948, nachmittags
um fünf, bekam mein Vater Besuch von Dr. Narlikar. Wie üblich, umarmten sie sich und schlugen sich auf den Rücken. «Eine kleine Schachpartie?», fragte mein Vater, dem Ritual entsprechend, denn diese Besuche entwickelten sich zu einer Gewohnheit. Sie spielten Schach auf die alte indische Art, das Shatranj-Spiel, und durch die Schlichtheit des Schachbretts von den Verwicklungen des Lebens befreit, träumte Ahmed ungefähr eine Stunde von der Neuordnung des Korans, und dann war es sechs Uhr, Cocktailstunde, Zeit für die Dschinns ... Aber an jenem Abend sagte Narlikar: «Nein.» Und Ahmed: «Nein? Was heißt hier nein ? Komm, setz dich, spiel, plaudere ...»Narlikar unterbricht ihn: «Heute Abend, Bruder Sinai, muss ich dir etwas zeigen.» Nun sitzen sie in einem Rover Baujahr 46 (Narlikar betätigt die Anlasserkurbel und springt auf), sie fahren die Warden Road entlang nach Norden, am Mahalaxmi-Tempel zur Linken und am Willingdon-Golfclub zur Rechten vorbei, lassen den Rennplatz hinter sich, fahren gemütlich über den Hornby Vellard entlang der Kaimauer; das Vallabhbhai-Patel-Stadion kommt in Sicht mit seinen riesigen, aus Pappe ausgeschnittenen Ringern, Bano Devi, der Unbesiegbaren Frau, und Dara Singh, dem Stärksten Mann der Welt ... am Meer promenieren Channaverkäufer und Leute, die ihre Hunde ausführen. «Stopp!», befiehlt Narlikar, und sie steigen aus. Sie stehen mit dem Gesicht zum Meer, eine Brise kühlt ihre Gesichter, und dort draußen, am Ende eines schmalen betonierten Stegs inmitten der Wellen, liegt die Insel, auf der das Grabmal des Mystikers Hadschi Ali steht. Zwischen Vellard und Grab wandeln Pilger.
    «Dort», zeigt Narlikar. «Was siehst du da?» Und Ahmed, verblüfft: «Nichts. Das Grabmal. Leute. Worum geht es denn, alter Knabe?» Und Narlikar: «Das meine ich nicht. Dort!» Und nun sieht Ahmed, dass Narlikars deutender Finger auf den Betonsteg weist ... «Die Promenade?», fragt er. «Was willst du denn damit? In ein paar Minuten kommt die Flut und bedeckt sie, das weiß doch jeder ...» Narlikar, dessen Haut glüht wie ein Signalfeuer, fängt an zu sinnieren.
«Genau so, Bruder Ahmed, genau so. Land und Meer, Meer und Land, der ewige Kampf, nicht wahr?» Verwirrt schweigt Ahmed.«Es gab einmal sieben Inseln», erinnert Narlikar ihn. «Worli, Mahim, Salsette, Matunga, Colaba, Mazagaon, Bombay. Die Briten haben sie miteinander verbunden. Meer, Bruder Ahmed, wurde zu Land. Das Land stieg auf und ging mit der Flut nicht unter!» Ahmed lechzt nach seinem Whisky, seine Lippe beginnt sich vorzuschieben, während Pilger den schmaler werdenden Steg hinunterhasten.«Komm zur Sache», verlangt er. Und Narlikar, der so glänzt, dass er blendet: «Die Sache, Ahmed Bhai, ist dies!»
    Es kommt aus seiner Tasche: ein kleines, fünf Zentimeter hohes Gipsmodell: der Tetrapode! Wie ein dreidimensionaler Mercedes-Stern stehen drei Beine auf seiner Handfläche, ein viertes ragt, einem Lingam ähnlich, in die Abendluft; es lässt meinen Vater erstarren.«Was ist das?», fragt er, und nun erklärt ihm Narlikar: «Das ist das Baby, das uns reicher als Haiderabad macht, Bhai! Diese kleine Spielerei macht uns, dich und mich, zu Herren von alldem!» Er zeigt dort hinaus, wo das Meer über den verlassenen Betonsteg herfällt ... «Das Land unter dem Meer, mein Freund! Wir müssen die Dinger zu Tausenden – zu Zehntausenden herstellen! Wir müssen eine Offerte für Landgewinnungskontrakte einreichen! Ein Vermögen wartet, verpass die Gelegenheit nicht, Bruder, dies ist die Chance deines Lebens!»
    Warum ließ mein Vater sich darauf ein, den unternehmerischen Traum eines Gynäkologen zu träumen? Warum nahm ihn nach und nach die Vision von voll ausgewachsenen Tetrapoden aus Beton, die über Kaimauern stiegen, vierbeinigen Eroberern, die über das Meer triumphierten, genauso gefangen wie den glühenden Arzt? Warum gab Ahmed sich in den folgenden Jahren dem Hirngespinst jedes Inselbewohners hin – dem Mythos, die Wellen zu bezwingen? Vielleicht, weil er Angst hatte, eine weitere Abzweigung zu verpassen, vielleicht um der Kameradschaft bei den Shatranj-Spielen willen; oder vielleicht war es Narlikars Glaubwürdigkeit –«dein
Kapital und meine Kontakte, Ahmed Bhai, was für Probleme kann es da schon geben? Jeder bedeutende Mann in dieser Stadt hat einen Sohn, der von mir auf die Welt gebracht worden ist; keine Tür wird sich uns verschließen. Du übernimmst die Produktion,

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