Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
Gegengift bekannt, doch Schaapstekers Lebensziel war es, eins zu finden. Er kaufte durch Stürze verletzte Pferde aus den Catrack-Ställen (unter anderen) und injizierte ihnen kleine Dosen von dem Gift, aber den Pferden, gar nicht hilfreich, gelang es nicht, Antikörper zu entwickeln. Ihnen trat Schaum vors Maul, sie starben aufrecht stehend und mussten zu Leim verarbeitet werden. Es wurde behauptet, dass Dr. Schaapsteker –«Scharfstecher Sahib» – mittlerweile die Macht erlangt habe, Pferde zu töten, indem er sich ihnen einfach mit aufgezogener Spritze näherte ... aber Amina schenkte diesen verstiegenen Geschichten keine Beachtung.«Er ist ein alter Herr», sagte sie zu Mary Pereira. «Was
sollen wir uns um Leute scheren, die ihn anschwärzen? Er bezahlt seine Miete und ermöglicht uns unsere Lebenshaltung.» Amina war dem europäischen Schlangendoktor dankbar, besonders in jenen Tagen der Einfrierung, als Ahmed anscheinend nicht die Kraft zum Kämpfen hatte.
«Meine geliebten Eltern», schrieb Amina, «ich schwöre bei Kopf und Kragen, dass ich nicht weiß, warum solche Dinge uns passieren ... Ahmed ist ein guter Mann, aber diese Sache hat ihn schwer getroffen. Wenn Ihr einen Rat für Eure Tochter habt, sie hat ihn bitter nötig.» Drei Tage nachdem sie diesen Brief erhalten hatten, trafen Aadam Aziz und Ehrwürdige Mutter mit dem Grenzzug im Hauptbahnhof von Bombay ein, und Amina, die sie in unserem Rover Baujahr 46 nach Hause fuhr, sah aus dem Seitenfenster, erblickte die Mahalaxmi-Rennbahn und spürte ihre verwegene Idee erstmals keimen.
«Diese moderne Inneneinrichtung ist schön und gut für euch jungen Leute, wieheißtesnoch», sagte Ehrwürdige Mutter, «aber mir gebt doch bitte einen altmodischen Takht, auf dem ich sitzen kann. Diese Sessel sind so weich, wieheißtesnoch, dass ich das Gefühl habe, ich falle.»
«Ist er krank?», fragte Aadam Aziz. «Soll ich ihn untersuchen und ihm eine Arznei verschreiben?»
«Jetzt ist nicht die Zeit, sich im Bett zu verstecken», erklärte Ehrwürdige Mutter. «Er muss nun ein Mann sein, wieheißtesnoch, und sich wie ein Mann verhalten.»
«Wie gut ihr beide ausseht, meine Eltern!», rief Amina und dachte, ihr Vater sei recht alt geworden; mit dem Verstreichen der Jahre schien er immer kürzer zu werden, während Ehrwürdige Mutter so breit geworden war, dass Sessel, egal wie weich, unter ihrem Gewicht ächzten ... und manchmal, infolge einer optischen Täuschung, glaubte Amina, sie sähe mitten im Leib ihres Vaters einen Schatten, dunkel wie ein Loch.
«Was ist in diesem Indien noch geblieben?», fragte Ehrwürdige
Mutter und schnitt die Luft mit der Hand. «Geht weg, lasst alles zurück, geht nach Pakistan. Seht, wie gut dieser Zulfikar sich macht – er verhilft euch zu einem Start. Sei ein Mann, mein Sohn – steh auf und fang neu an!»
«Er will jetzt nicht sprechen», sagte Amina. «Er muss sich ausruhen. »
«Ausruhen?», röhrte Aadam Aziz. «Der Mann ist ein Waschlappen! »
«Selbst Alia, wieheißtesnoch», sagte Ehrwürdige Mutter, «ist ganz allein nach Pakistan gegangen – selbst sie verdient anständig, unterrichtet in einer guten Schule. Man sagt, sie wird bald Direktorin.»
«Pst, Mutter, er will schlafen ... lass uns nach nebenan gehen ...»
«Es gibt eine Zeit zum Schlafen, wieheißtesnoch, und eine Zeit zum Wachen! Hör zu: Mustapha verdient viele hundert Rupien im Monat, wieheißtesnoch, bei der Behörde. Was ist mit deinem Mann? Ist er sich zu gut zum Arbeiten?»
«Mutter, er ist aus dem Gleichgewicht gebracht. Seine Temperatur ist so niedrig ...»
«Was gibst du ihm zu essen? Von heute an, wieheißtesnoch, übernehme ich die Küche. Junge Leute heutzutage – wie die kleinen Kinder, wieheißtesnoch!»
«Wie du wünschst, Mutter.»
«Ich sage dir, wieheißtesnoch, es sind diese Fotos in der Zeitung. Ich habe dir geschrieben – oder nicht? –, dass daraus nichts Gutes kommen würde. Fotos nehmen Stücke von dir weg. Mein Gott, wieheißtesnoch, als ich dein Bild sah, warst du so durchsichtig geworden, dass ich die Schrift von der anderen Seite durch dein Gesicht hindurch sehen konnte!»
«Aber das ist bloß ...»
«Erzähl mir keine Geschichten, wieheißtesnoch! Ich danke Gott, dass du dich von diesem Foto erholt hast!»
Nach diesem Tag war Amina von den Erfordernissen der Haushaltsführung
befreit. Ehrwürdige Mutter saß am Kopfende des Esstischs und teilte Essen aus (Amina brachte Teller zu Ahmed, der im Bett
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