Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
berichte ich nur, dass meine Mutter, kaum hatte sie die Leiter zum Sieg in Gestalt ihres Glücks auf der Rennbahn entdeckt, daran erinnert wurde, dass es in den Gassen des Landes immer noch von Schlangen wimmelte.
Aminas Bruder Hanif war nicht nach Pakistan gegangen. Er war dem Kindheitstraum gefolgt, den er in einem Kornfeld in Agra Rashid dem Rikschajungen zugeflüstert hatte, und war in Bombay eingetroffen, wo er eine Beschäftigung in den großen Filmstudios suchte. Mit der Zuversicht des Frühreifen war es ihm nicht nur gelungen, als jüngster Mann in der Geschichte des indischen Kinos bei einem Film Regie zu führen, sondern er hatte auch einen der strahlendsten Stars an diesem Zelluloidhimmel gefreit und geheiratet, die göttliche Pia, deren Gesicht ihr Vermögen war und deren Saris aus Stoffen bestanden, mit denen die Designer sich sichtlich vorgenommen hatten zu beweisen, dass es möglich war, jede dem
Menschen bekannte Farbe in einem einzigen Muster zu vereinigen. Ehrwürdige Mutter billigte die göttliche Pia nicht, aber Hanif war in meiner ganzen Familie der Einzige, der nicht unter Mutters einengendem Einfluss stand, ein lustiger, beleibter Mann mit dem dröhnenden Lachen des Fährmanns Tai und dem aufbrausenden harmlosen Zorn seines Vaters Aadam Aziz; er führte sie einfach in ein kleines unfilmisches Apartment am Marine Drive und sagte zu ihr: «Wir haben noch Zeit genug, wie die Fürsten zu leben, wenn ich mir erst einen Namen gemacht habe.» Sie fügte sich; sie spielte die Hauptrolle in seinem ersten Spielfilm, der zum Teil von Homi Catrack und zum Teil von der D. W. Rama Studiogesellschaft mbH finanziert war – er hieß Die Liebenden von Kaschmir, und eines Abends, noch während ihrer Rennplatzbesuche, ging Amina Sinai zur Premiere. Ihre Eltern kamen nicht mit, weil Ehrwürdige Mutter das Kino verabscheute und Aadam Aziz nicht mehr die Kraft hatte, dagegen anzukämpfen – genauso wie er, der mit Mian Abdullah gegen Pakistan gekämpft hatte, nicht mehr mit ihr stritt, wenn sie das Land pries, sondern gerade noch genug Kraft hatte, standhaft zu bleiben und nicht auszuwandern. Doch Ahmed Sinai, durch die Kochkünste seiner Schwiegermutter wiederbelebt, wiewohl empört über ihr langes Bleiben, kam auf die Beine und begleitete seine Frau. Sie nahmen ihre Plätze neben Hanif und Pia und dem männlichen Star des Films ein, einem von Indiens erfolgreichsten «loverboys», I. S. Nayyar. Und sie ahnten nicht, dass eine Schlange in den Kulissen wartete ... aber wollen wir doch in der Zwischenzeit Hanif Aziz seinen großen Augenblick gönnen. Die Liebenden von Kaschmir enthielt nämlich eine Idee, die meinem Onkel eine spektakuläre, wenn auch kurze Zeit des Triumphs bescherte. In jenen Tagen war es den männlichen Idolen und ihren führenden Damen nicht erlaubt, sich auf der Leinwand zu berühren, aus Furcht, dass ihre Fühlungnahme die Jugend der Nation verderben könne ... doch dreiunddreißig Minuten nach Beginn der Liebenden kam aus dem Premierenpublikum ein schockiertes Gesumme, denn Pia
und Nayyar hatten angefangen zu küssen – nicht sich, sondern Dinge.
Pia küsste einen Apfel voller Sinnlichkeit, mit üppig schwellenden angemalten Lippen, und gab ihn dann an Nayyar weiter, der einen männlich-leidenschaftlichen Kuss auf die andere Seite pflanzte. Das war die Geburt dessen, was später als indirekter Kuss bekannt wurde – und um wie viel feinsinniger war diese Idee als alles, was es in unserem gegenwärtigen Kino gibt, wie aufgeladen von Sehnsucht und Erotik! Das Kinopublikum (das heutzutage beim Anblick eines jungen Paares, das hinter einem Busch verschwindet, der dann lächerlich zu wackeln anfängt, rauen Beifall spenden würde – so sehr hat unser Vermögen, etwas anzudeuten, nachgelassen) starrte gebannt auf die Leinwand und sah zu, wie die Liebe zwischen Pia und Nayyar sich vor dem Hintergrund des Dalsees und des eisblauen kaschmirischen Himmels in Küssen ausdrückte, die sie auf Tassen mit rosafarbenem kaschmirischen Tee drückten. Bei den Brunnen von Shalimar pressten sie die Lippen auf ein Schwert ... aber nun, auf der Höhe von Hanif Aziz’ Triumph, weigerte sich die Schlange zu warten; unter ihrem Einfluss gingen die Lichter im Kino an. Vor den überlebensgroßen Figuren von Pia und Nayyar, die bei gedämpfter Musik mit gespitzten Lippen Mangos küssten, sah man die Gestalt eines verzagten Mannes mit spärlichem Bartwuchs, der mit dem Mikrofon in der Hand auf die
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