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Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Titel: Mitternachtskinder: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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Bühne unterhalb der Leinwand schritt. Die Schlange kann äußerst unerwartete Formen annehmen; nun verspritzte sie ihr Gift in der Maske dieses inkompetenten Geschäftsführers. Pia und Nayyar verblassten und erstarben, und die durchs Mikrofon verstärkte Stimme des Bärtigen sagte: «Meine Damen und Herren, Sie verzeihen, aber ich habe eine schreckliche Nachricht.» Seine Stimme brach – die Schlange schluchzte, um ihren Zähnen Kraft zu verleihen! – und fuhr dann fort: «Heute Nachmittag wurde im Birla House in Delhi unser geliebter Mahatma getötet. Ein Verrückter schoss ihn in den Bauch, meine Damen und Herren – unser Bapu ist tot.»
    Die Zuschauer hatten zu schreien begonnen, bevor er fertig war – das Gift seiner Worte drang in ihre Adern; erwachsene Männer wälzten sich in den Gängen und hielten sich die Bäuche, nicht vor Lachen, sondern vor Weinen: Hai Ram! Hai Ram! – Frauen rauften sich die Haare: Die schönsten Frisuren der Stadt wallten über die Ohren der vergifteten Damen herab – Filmstars kreischten wie Fischweiber, und etwas Schreckliches lag in der Luft – und Hanif flüsterte: «Mach, dass du hier rauskommst, große Schwester – wenn das ein Moslem getan hat, werden wir es teuer bezahlen müssen.»
    Für jede Leiter gibt es eine Schlange ... und nach dem vorzeitigen Ende der Liebenden von Kaschmir blieb unsere Familie achtundvierzig Stunden lang innerhalb der Wände von Buckingham Villa. («Rückt Möbel gegen die Türen, wieheißtesnoch!», befahl Ehrwürdige Mutter. «Wenn ihr Hindu-Diener habt, schickt sie nach Hause! ») Und Amina wagte nicht, die Rennbahn zu besuchen.
    Doch für jede Schlange gibt es eine Leiter, und schließlich gab uns das Radio einen Namen bekannt: Nathuram Godse. «Gott sei Dank», platzte Amina heraus, «es ist kein moslemischer Name!»
    Und Aadam, dem die Nachricht von Gandhis Tod eine neue Alterslast auferlegt hatte: «Dieser Godse ist nichts, für das man dankbar sein muss!» Amina jedoch war vor Erleichterung leichtsinnig. Taumelig eilte sie die lange Leiter der Erleichterung hoch ... «Warum eigentlich nicht? Dadurch, dass er Godse ist, hat er uns das Leben gerettet!»

    Nachdem sich Ahmed Sinai von seinem mutmaßlichen Krankenbett erhoben hatte, benahm er sich weiterhin wie ein Invalide. Mit einer Stimme wie trübes Glas sagte er zu Amina: «So, du hast also Ismail gesagt, er solle vor Gericht gehen, ausgezeichnet, meinetwegen; aber wir werden verlieren. In diesen Gerichtshöfen muss man die Richter kaufen ...» Und Amina stürzt zu Ismail: «Nie – unter
keinen Umständen – dürfen Sie Ahmed von dem Geld erzählen. Ein Mann muss seinen Stolz wahren.» Und später: «Nein, Janum, ich gehe nirgendwohin; nein, das Baby strengt mich überhaupt nicht an; du ruhst dich aus, ich muss einkaufen gehen – vielleicht besuche ich auch Hanif; wir Frauen, weißt du, müssen uns irgendwie beschäftigen.»
    Und kommt nach Hause mit Umschlägen, randvoll mit Rupienscheinen ...«Nehmen Sie’s, Ismail, jetzt, wo er auf den Beinen ist, müssen wir schnell und vorsichtig sein.» Und abends sitzt sie pflichtbewusst neben ihrer Mutter: «Ja, natürlich hast du Recht, und Ahmed wird bald ganz reich werden, warte nur ab!»
    Und endlose Verzögerungen beim Gericht; und Umschläge, die sich leeren; und das Baby wächst, und bald wird Amina nicht mehr in der Lage sein, sich hinter das Steuer des Rover Baujahr 46 zu klemmen; und kann ihre Glückssträhne anhalten? und Musa und Mary streiten sich wie betagte Tiger.
    Was veranlasst die Streitigkeiten?
    Welche Reste von Schuld, Angst, Scham, eingelegt in Marys Gedärm, brachten sie dazu, den alten Hausdiener mit Absicht ohne Absicht auf ein Dutzend verschiedene Arten zu provozieren – durch Hochtragen der Nase, das ihre höhere Position anzeigen soll, durch angriffslustiges Abbeten des Rosenkranzes vor der Nase des gläubigen Moslems, durch Annahme des Titels «mausi», kleine Mutter, den die anderen Dienstboten auf dem Anwesen ihr verliehen hatten und den Musa als Bedrohung seiner Position ansah, durch übertriebene Vertraulichkeit mit der Begum Sahiba – ein wenig kicherndes Getuschel in den Ecken, gerade laut genug, dass der förmliche, steife, korrekte Musa es hören und sich irgendwie betrogen fühlen konnte.
    Welches winzige Schmutzkörnchen in dem Meer des Alters, das nun über dem alten Hausdiener zusammenschlug, saß zwischen seinen Lippen fest und rundete sich zur dunklen Perle des Hasses – welch

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