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Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Titel: Mitternachtskinder: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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Dienstbotenunterkünften hatte Musa zu seinem Herrn gesagt: «Ich war es nicht, Sahib. Wenn ich Sie beraubt habe, will ich Aussatz bekommen, soll meine alte Haut mit eiternden Schwären bedeckt sein!»
    Mit entsetztem Gesicht wartet Amina auf Musas Antwort. Das Gesicht des alten Hausdieners verkrampft sich zu einer Maske des Zorns, die Worte werden ausgespien. «Begum Sahiba, ich habe Ihnen nur Ihre kostbaren Besitztümer genommen, aber Sie und Ihr Sahib und Ihr Vater haben mir mein ganzes Leben genommen; und als ich alt wurde, haben Sie mich mit christlichen Ayahs gedemütigt. »
    Schweigen herrscht in Buckingham Villa – Amina hat sich geweigert, ihn anzuzeigen, doch Musa geht weg. Mit der Bettrolle auf dem Rücken steigt er eine eiserne Wendeltreppe herab und entdeckt, dass Leitern ebenso gut herunter- wie hinaufführen können; den Hügel hinab geht er davon und hinterlässt einen Fluch auf dem Haus.
    Und Mary Pereira (hat der Fluch das in Gang gesetzt?) steht kurz vor der Entdeckung, dass man, selbst wenn man eine Schlacht gewinnt, selbst wenn Treppen sich günstig auf die eigene Person auswirken, einer Schlange nicht aus dem Weg gehen kann.
     
    Amina sagt: «Mehr Geld kann ich Ihnen nicht beschaffen, Ismail. Haben Sie genug?» Und Ismail: «Ich hoffe, ja – aber man weiß nie – könnten Sie denn noch ...?» Doch Amina: «Das Problem ist, dass ich so dick geworden bin und so. Ich komme nicht mehr ins Auto rein. Es muss einfach reichen.»
    ... Für Amina verlangsamt die Zeit sich wieder einmal; wieder einmal geht ihr Blick durch Bleiverglasung, auf der rote Tulpen mit
grünen Stängeln harmonisch tanzen; ein zweites Mal verweilt ihr Blick auf einem Uhrturm, der seit den Regenfällen von 1947 nicht mehr funktioniert; wieder einmal regnet es. Die Rennsaison ist vorüber.
    Ein hellblauer Uhrturm: gedrungen, abblätternd, außer Betrieb. Er stand am Ende der Zirkusmanege auf schwarz geteertem Beton – dem Flachdach der oberen Stockwerke der Gebäude entlang der Warden Road, die an unser zweigeschossiges Hügelchen angrenzten, sodass man, wenn man über die Grenzmauer von Buckingham Villa kletterte, glatten schwarzen Teer unter den Füßen hatte. Und unterhalb des schwarzen Teers die Breach-Candy-Vorschule, aus der jeden Nachmittag während der Schulzeit die Klimpermusik von Miss Harrisons Klavier heraufdrang, das die unveränderlichen Weisen der Kindheit spielte; und darunter die Geschäfte, das Paradies des Lesers, Fatbhoys Juweliergeschäft und Chimalkars Spielzeughandlung und Bembelli, in dessen Schaufenstern massenhaft Ein-Meter-Schokolade lag. Die Tür zum Uhrturm war angeblich abgeschlossen, aber es war ein billiges Schloss von einer Sorte, die Nadir Khan erkannt hätte: Made in India. Und an drei aufeinander folgenden Abenden kurz vor meinem ersten Geburtstag bemerkte Mary Pereira, als sie abends an meinem Fenster stand, eine schemenhafte Figur, die über das Dach glitt und viele unförmige Gebilde in den Händen hielt, einen Schatten, der sie mit unerklärlichem Grauen erfüllte. Nach dem dritten Abend erzählte sie es meiner Mutter; die Polizei wurde gerufen, und Inspektor Vakeel kehrte zu Methwold’s Estate zurück, begleitet von einem Sonderkommando  –«alles erstklassige Scharfschützen, Begum Sahiba, überlassen Sie nur alles uns!» –, die, als Straßenfeger verkleidet, die Gewehre unter den Lumpen verborgen, den Uhrturm observierten, während sie den Staub in der Manege zusammenfegten.
    Es wurde Abend. Hinter Vorhängen und Bambusjalousien spähten die Bewohner von Methwold’s Estate furchtsam in Richtung Uhrturm. Straßenfeger gingen unsinnigerweise im Dunkeln ihren
Pflichten nach. Johnny Vakeel bezog auf unserer Veranda Stellung, das Gewehr hinter der Brüstung verborgen ... und um Mitternacht kam ein Schatten über die Seitenwand der Breach-Candy-Vorschule und schlug, einen Sack über die Schulter geworfen, seinen Weg zum Turm ein ... «Er muss hineingehen», hatte Vakeel zu Amina gesagt. «Wir müssen sicher sein, dass wir den richtigen Johnny erwischen. »Der Johnny tappte über das flache Teerdach, erreichte den Turm, ging hinein.
    «Inspektor Sahib, worauf warten Sie noch?»
    «Pst, Begum, das ist Sache der Polizei. Bitte treten Sie ein Stück zurück. Wir fassen ihn, wenn er herauskommt; verlassen Sie sich auf mich. Geschnappt», sagte Vakeel mit Genugtuung, «wie eine Ratte in der Falle.»
    «Aber wer ist er?»
    «Wer weiß?» Vakeel zuckte die Achseln. «Bestimmt irgendein

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