Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
ungewohnte Lähmungen befielen Musa, dessen Hand und
Fuß schwerfällig wurden, sodass Vasen zerbrochen und Aschenbecher verschüttet wurden und eine verschleierte Andeutung einer bevorstehenden Entlassung – von Marys bewussten oder unbewussten Lippen? – eine zwanghafte Angst hervorrief, die zurückfiel auf die Person, die sie ausgelöst hatte?
Und (um die sozialen Faktoren nicht auszulassen) was war der demütigende Effekt des Dienerstatus, des Dienstbotenzimmers hinter einer rußschwarzen Küche, in der Musa zusammen mit Gärtner, Gelegenheitsarbeiter und Laufbursche schlafen musste – während Mary stilvoll auf einer Binsenmatte neben einem Neugeborenen schlief?
Und war Mary schuldlos oder nicht? Wurde die Unfähigkeit, zur Kirche zu gehen – denn in Kirchen fand man Beichtstühle, und in Beichtstühlen konnten keine Geheimnisse gewahrt werden –, in ihr sauer, wurde sie dadurch eine Spur bissig, eine Spur verletzend?
Oder müssen wir den Blick über die Psychologie hinaus richten – unsere Antworten in Bemerkungen suchen wie zum Beispiel: dass eine Schlange Mary auflauerte und Musa dazu verurteilt war, die Doppeldeutigkeit von Leitern zu erfahren? Oder sollten wir noch weitergehen, über Schlange-und-Leiter hinaus, und die Hand des Schicksals in dem Streit sehen – sollten wir sagen, dass es notwendig war, einen Abschied zu bewerkstelligen, damit Musa als explosiver Geist zurückkehren, damit er die Rolle einer Bombein-Bombay übernehmen kann ... oder konnte es denn sein, wenn wir einmal aus diesen Höhen in die Niederungen des Lächerlichen hinabsteigen wollen, dass Ahmed Sinai – den der Whisky herausforderte, den Dschinns zur Grobheit anstachelten – den bejahrten Hausdiener so erregt hatte, dass Musas Verbrechen, durch das er Marys Rekord einholte, aus dem verletzten Stolz eines missbrauchten alten Gefolgsmannes heraus begangen wurde und nichts mit Mary zu tun hatte?
Ich bereite den Fragen ein Ende und beschränke mich auf Tatsachen: Musa und Mary standen fortwährend miteinander auf Kriegsfuß.
Und ja: Ahmed beleidigte ihn, und Aminas Schlichtungsversuche waren vielleicht nicht erfolgreich, und ja: Die berauschenden Schatten des Alters hatten ihn davon überzeugt, dass er entlassen werden würde, ohne Vorwarnung, von einem Augenblick auf den anderen; und so kam es, dass Amina eines Morgens im August entdeckte, dass im Haus eingebrochen worden war.
Die Polizei kam. Amina meldete, was fehlte: ein silberner, mit Lapislazuli eingelegter Spucknapf, Goldmünzen, mit Juwelen besetzte Samoware und Teeservice, der Inhalt eines grünen Blechkoffers. Die Dienstboten wurden in der Halle aufgestellt und den Drohungen von Inspektor Johnny Vakeel ausgesetzt. «Kommt schon, gebt es nur zu» – der Lathiknüppel trommelte gegen sein Bein –, «sonst werdet ihr erleben, dass wir ganz andere Saiten aufziehen können. Wollt ihr den ganzen Tag und die ganze Nacht auf einem Bein stehen? Wollt ihr mit Wasser übergossen werden – abwechselnd kochend heiß und eiskalt? Wir haben viele Möglichkeiten bei der Polizei ...» Und nun eine lärmende Kakophonie vonseiten der Dienstboten: Ich nicht, Inspektor Sahib, ich bin ein ehrlicher Junge; um Himmels willen, durchsuchen Sie meine Sachen, Sahib! Und Amina: «Was zu viel ist, ist zu viel, Sir, Sie gehen zu weit. Von meiner Mary weiß ich sowieso, dass sie unschuldig ist. Ich lasse nicht zu, dass sie verhört wird.» Der Polizeibeamte unterdrückt seinen Ärger. Eine Durchsuchung der Habseligkeiten wird angeordnet –«Nur für alle Fälle, Madam. Die Intelligenz dieser Kerle ist beschränkt – und vielleicht haben Sie den Diebstahl zu früh entdeckt, bevor der Verbrecher sich mit der Beute davonmachen konnte.»
Die Suche hat Erfolg. In der Bettrolle Musas, des alten Hausdieners: ein silberner Spucknapf. In sein armseliges Kleiderbündel eingewickelt: Goldmünzen, ein silberner Samowar. Unter seinem Flechtbett verborgen: ein fehlendes Teeservice. Und jetzt hat Musa sich Ahmed Sinai zu Füßen geworfen; Musa bettelt: «Verzeih, Sahib! Ich war verrückt; ich habe gedacht, Sie würden mich auf die Straße setzen!» Aber Ahmed Sinai will nicht zuhören; die Einfrierung tut
ihre Wirkung. «Ich fühle mich so schwach», sagt er und verlässt das Zimmer, und entgeistert fragt Amina: «Aber Musa, warum hast du denn diesen schrecklichen Schwur geleistet?»
... Denn in der Zeit zwischen dem Aufstellen im Gang und den Entdeckungen in den
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