Mitternachtskinder
ich ließ die Augen geschlossen. Ich spürte ihren Atem auf der nackten Haut meines Armes. »Warum hast du
tot
auf deine Hand geschrieben?«
»Weiß ich nicht mehr.«
»Das glaube ich dir nicht. Woran hast du gedacht, als du das hingeschrieben hast?«
»Ich kann mich nicht daran erinnern.«
»Liebst du sie?«
»Nuala, lass mich in Ruhe. Das ist mein Ernst.«
Sie blieb beharrlich. »Das ist eine einfache Frage, ja oder nein. Und ich bin noch nicht einmal eine richtige Person. Es ist so, als würdest du es dir selbst erzählen.«
Durch den Druck meiner Fingerknöchel auf meinen geschlossenen Augenlidern sah ich bunte Formen in der Dunkelheit, hellviolette und grüne Flecken tanzten in unsinnigen, stetig fallenden Mustern. »Ich habe dich sehr höflich darum gebeten, mich in Ruhe zu lassen, Nuala. Das ist kein geheimer Agentencode für ›Frag weiter, bis ich meine Antwort ändere‹. Es bedeutet, dass ich wirklich nicht darüber reden will. Weder mit dir noch mit sonst jemandem.«
Nuala packte meine Faust mit beiden Händen, so dass mir Schauer über die Arme liefen. »Warum hast du keine Musik mehr gespielt, seit du sie geküsst hast?«
Lass mich in Ruhe.
Ich antwortete nicht. Selbst wenn ich gewollt hätte, was hätte ich sagen können? Dass alberne Dinge wie Musik oder Atmen mir seitdem nicht mehr so wichtig erschienen? Dass ich seit dem Kuss ein ständiges, lautes Rauschen in meinem Kopf hatte und deshalb keinen einzigen Ton fand, an dem ich mich hätte festhalten können?
»Das ist doch ein Anfang«, sagte Nuala. Wieder hatte sie meine Gedanken gelesen. Vielleicht konnte sie gar nicht damit aufhören.
Mir war nicht danach, meinen Gedanken über Dee noch etwas hinzuzufügen. Also wechselte ich das Thema. Sozusagen. »Ich glaube, dass du vielleicht besser dran bist.«
»Ich?«
»Ja.« Ich drehte den Kopf auf der Faust, um sie anzusehen. Dadurch ruhte eine ihrer Hände jetzt an meiner Wange. Die Haut in meinem Gesicht zog sich unter ihrer Fremdartigkeit zusammen. »Unsterblichkeit wäre in unserer beschissenen Welt unerträglich, wenn man sie als Einziger besäße. Du müsstest dich ständig an die vielen Jahre erinnern, in denen alle anderen nach und nach verschwunden sind. Zumindest musst du nicht zuschauen, wie alle, die du kennst, alt werden und sterben, während du ewig weiterlebst.«
Stirnrunzelnd betrachtete Nuala ihre Finger auf meiner Haut. »Andere Feen dürfen ihre Erinnerungen behalten.«
»Du hast doch selbst gesagt, dass du nicht wie andere Feen bist. Sie haben keine richtigen Gefühle. Aber du
musst
menschlicher sein, nicht wahr? Damit du uns einfangen kannst.«
Sie schwieg.
»Wie menschlich bist du?« Sofort, nachdem ich die Frage gestellt hatte, war ich selbst nicht mehr sicher, wie ich sie gemeint hatte. Trotzdem nahm ich sie nicht zurück.
Sie schwieg so lange, dass ich schon vermutete, sie würde gar nicht antworten. Schließlich nahm sie die Hand von meiner Wange und sagte: »Zu menschlich. Ich dachte immer, ich sei kaum menschlich, aber da habe ich mich wohl geirrt. Oder vielleicht sterbe ich auch schon. Vielleicht geht das immer so. Woher soll ich das wissen? Sechzehn Jahre kommen einem nicht sehr lang vor, wenn man an ihrem Ende steht.«
Ich lehnte mich zurück. Es gefiel mir nicht, was ich empfand, also sagte ich: »Hör auf, dich selbst zu bemitleiden.«
Ihre Stimme klang trotzig. »Wenn du auch damit aufhörst.«
Ich blickte auf meine Hände hinab. Im trüben Licht konnte ich gerade so ein paar Worte darauf ausmachen:
tot, Walküre, Seelen folgen.
»Schreiben wir zusammen etwas.«
Nuala sah mich mit halb verfinsterter Miene an.
Ich entgegnete: »Schau mich nicht so an, als wüsstest du nicht, wovon zum Teufel ich rede. Ich meine, lass uns etwas schreiben.«
»Du möchtest, dass ich dir helfe, etwas zu schreiben?«
»Nein, ich meine, dass wir beide unsere Hirne und gemeinsam meine Finger benutzen, um etwas zu schreiben.«
»Was denn?«
»Keine Ahnung. Musik? Ein Theaterstück?«
Nuala schien sich sehr zu bemühen, nicht vergnügt dreinzuschauen. »Du schreibst aber keine Theaterstücke.«
»Wenn ich ein Theaterstück schreiben und die Musik dazu komponieren würde, könntest du Regie führen. Wir sollen uns für Sullivan irgendein kreatives Projekt ausdenken, das mit Metaphern zu tun hat. Das wäre zwar kein Film, aber bis Halloween können wir nun mal nicht alles erreichen, oder?«
Sie sah mich ganz intensiv an, mit einem Blick, den ich mir immer von Dee
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