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Mitternachtskinder

Mitternachtskinder

Titel: Mitternachtskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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wollte.«
    Als ich ihr mein Stück Pizza anbot, bedachte sie mich mit einem sehr seltsamen, schockierten Blick und schüttelte dann den Kopf. Das erinnerte mich an die alten Märchen, in denen es hieß, wer im Feenreich dargebotene Speisen aß, müsse auf ewig dortbleiben. Das könnte auch umgekehrt funktionieren, vermutete ich. Über uns sprang der CD -Wechsler zur nächsten CD , einem meiner Breaking-Benjamin-Alben.
    »
Das
ist echte Musik«, erklärte ich Paul.
    Auf dem Bett über uns klopfte Pauls Fuß den Takt mit. »Britney ist auch echt, Mann. Das da ist aber noch ein bisschen echter.« Er machte eine Pause. »Mann, ich glaube, du bist der coolste Freund, den ich je hatte.«
    Ganz leicht verspürte ich Gewissensbisse. Nur ein Zwicken. »Weil ich dir Bier besorgt habe?«
    »Nein, Mann. Weil du einfach so – du weißt schon. So
du
bist. Nicht wie irgendwer sonst.« Paul hielt inne und sammelte sich. »Wenn ich dich sehe, will ich das auch. Nicht so sein wie alle anderen. Selbst wenn du dich wie ein Idiot benimmst, bist du ein Idiot, der genau wie du ist und wie sonst niemand, verstehst du, und alle respektieren das.«
    Nuala sah mich an, während er sprach. Ihre Augen glühten riesengroß in ihrem Gesicht, ein paar Zentimeter neben mir in der Dunkelheit.
    Findest du das auch?
    »Vor allem das mit dem Idioten, ja«, entgegnete Nuala. Noch immer betrachtete sie mich durchdringend, und ich starrte zurück.
    Ich wusste nicht, wie ich Paul antworten sollte. Ich hatte nur noch Gedanken dafür, wie Nuala roch und was für ein Muster die Sommersprossen auf ihren Wangen bildeten. Ohne den Blick von ihr abzuwenden, erwiderte ich: »Du schmeichelst mir.«
    »Halt den Mund«, sagte Paul. »Nimm das Kompliment doch einfach an.«
    Ich grinste. »Meinst du, dass du noch so geradeheraus redest, wenn du wieder nüchtern bist?«
    »Auf keinen Fall.«
    Irgendwie hielten Nuala und ich Händchen. Ich konnte mich nicht daran erinnern, wie es dazu gekommen war, ob ich nach ihrer Hand gegriffen hatte oder ob sie aus der Dunkelheit heraus ihre Hand nach meiner ausgestreckt hatte. Aber ich hielt ihre Hand, und sie hielt meine auch. Beinahe flüsternd bewegten sich ihre Finger langsam über die Haut an meinem Handgelenk, und meine Finger rieben über ihren Handrücken. Und ich wusste nicht, was das bedeutete – ob wir einfach Händchen hielten und man das eben mit einem durchgeknallten Feenmädchen so machte oder ob dieses Gefühl, das durch meinen Körper rauschte, viel mehr war als die Warnung, dass etwas Übernatürliches in der Nähe war.
    »Außerdem, weißt du«, fuhr Paul fort, »bist du auch ein Freak, aber trotzdem cool. Verstehst du, was ich meine? Du schreibst deine Hände voll wie ein Besessener, und trotzdem will jeder, der dich kennt, so sein wie du.« Dumpf knallte Pauls Kopf an die Wand neben dem Bett. »Das gibt Freaks wie mir neue Hoffnung.«
    Nualas Finger auf meiner Haut schienen meine ganze Welt einzunehmen. Ich wollte nur, dass sie mich unter das Bett zog und mit mir in der Dunkelheit verschwand, brachte aber dennoch hervor: »Du bist kein Freak.«
    »Oh, Mann, du hast ja keine Ahnung. Willst du hören, wie daneben ich bin? Das würde ich normalerweise
nie
irgendwem erzählen. Guter Stoff, das Bier.«
    Nualas Atem strich über meine Wangen, und ich bin sicher, dass ihr mein Würstchen-und-Paprika-Pizza-Atem ins Gesicht schlug. Falls ihr das etwas ausmachte, ließ sie sich jedoch nichts anmerken. Ihre Lippen waren zu einem sehr unschuldigen und schönen halben Lächeln verzogen, das sie sich bestimmt sofort verkniffen hätte, wenn es ihr bewusst gewesen wäre.
    »Stell dir vor: Ich höre jeden Abend jemanden singen.«
    Meine Finger erstarrten. Nualas ebenso. Beide lagen wir ganz still da, einer des anderen Spiegelbild.
    »Jeden Abend höre ich diesen Gesang, und es ist, als würde ich träumen. Wie in so einem Traum, in dem man weiß, alles ist in einer fremden Sprache, aber man versteht es trotzdem, weißt du? Jedenfalls ist dieses Lied nur eine Liste. Eine Liste von Namen.« Paul hielt inne, und ich hörte ihn trinken und trinken und trinken. »Und ich
weiß
einfach, wenn ich diese Namen höre, dass es eine Liste von Toten ist. Von Leuten, die sterben werden. Ich weiß es, denn nach der Liste singt er immer:
Gedenket unser, so singen die Toten, denn sonst denken wir an euch

    Ich begann zu zittern und merkte erst jetzt, dass ich zuvor nicht gezittert hatte.
    Meine Stimme klang normal. »Wer steht auf der

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