Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mitternachtskinder

Mitternachtskinder

Titel: Mitternachtskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
Vom Netzwerk:
Stücke.
    Aus Die Goldene Zunge: Gedichte von Steven Slaughter
    I ch beobachtete gerade James beim Schlafen, als ich gerufen wurde. Während des Augenblicks meiner Reise konnte ich nur an das denken, was ich zuletzt gesehen hatte: James auf seinem persönlichen Schlachtfeld, nämlich im Schlaf, die Arme fest um ein Kissen geschlungen und mit unserer gemeinsamen Arbeit bekritzelt. Er träumte von
Ballade,
ganz von allein, ohne irgendeinen Anstoß von mir. Er träumte von der Hauptfigur des Stücks, die im Grunde eine Metapher für ihn selbst war: ein egoistischer Zauberer in einer Welt voller gewöhnlicher Leute. Und er träumte von einem Gebäude, in dem das Stück aufgeführt werden sollte, einem niedrigen, flachen Gebäude aus gelbem Backstein, das von Efeu überwuchert war. Und Eric war da und spielte Gitarre, und – wie hieß er gleich? – das Mondgesicht – Paul – spielte auch in dem Stück mit. Seine Gesten waren übertrieben, seine Miene schockiert. Alles war so lebendig gezeichnet, bis hin zum leicht modrigen Geruch des Saals, dass es beinahe so war, als träumte ausnahmsweise einmal ich.
    Und dann
    ruck
    war ich weg.
    Ich materialisierte wieder in einem Wirbel raschelnder herbstlicher Blätter, deren Ränder sich kalt und scharf an meiner Haut anfühlten. Die Oktobernacht war eisig und still. Ich stand in einem Hain nachtschwarzer Bäume, doch ganz in der Nähe schimmerte die Eingangsbeleuchtung der Wohnheime.
    Selbst als ich den bitteren Geruch von brennendem Thymian wahrnahm, brauchte ich noch einen Moment, um zu begreifen, dass jemand mich beschworen hatte. Das geschah schließlich nicht jeden Tag. Niemand brauchte mich herbeizurufen.
    »Was bist
du
denn?«, fuhr mich eine Stimme an.
    Ich runzelte die Stirn und wandte mich nach der Stimme und dem Geruch um. Da stand eine Menschenfrau, alt und hässlich, mindestens vierzig Jahre alt. Sie hielt ein Streichholz in einer Hand, dessen Spitze noch rauchte, und einen glimmenden Zweig Thymian in der anderen. Einen Augenblick lang wusste ich nicht, was ich sagen sollte. Ich war seit vielen Jahren nicht mehr von einem Menschen herbeigezaubert worden.
    »Etwas Gefährliches«, entgegnete ich. Sie betrachtete meine Kleidung mit hochgezogener Braue.
    »Du siehst
menschlich
aus«, sagte sie verächtlich, ließ das Streichholz und den Thymianzweig ins knisternde Herbstlaub fallen und trat sie mit dem Absatz ihres Lederstiefels aus.
    Finster starrte ich sie an. Sie hatte ein vierblättriges Kleeblatt um den Hals hängen, an einer Schnur, die um den Stengel gebunden war – so konnte sie Feen sehen. Plötzlich erkannte ich, dass ich sie schon einmal im Flur vor den Übungsräumen gesehen hatte. Die Frau, die geschnuppert hatte. Ich erwiderte: »Du siehst auch menschlich aus. Warum hast du mich gerufen?«
    »Ich brauche nicht direkt dich. Ich habe eurer Königin einen Gefallen getan und brauche jetzt Hilfe.«
    Sie roch nicht nach Furcht, was mich ärgerte. Menschen sollten nach Angst riechen. Sie sollten auch nicht wissen, dass man uns mit Hilfe von Thymian herbeirufen und mit Hilfe von vierblättrigen Kleeblättern sehen konnte. Und vor allen Dingen sollten sie nicht da herumstehen, eine Hand in die Hüfte gestemmt, und mich ansehen, als wollten sie sagen:
Also?
    »Ich bin kein Dschinn«, gab ich steif zurück.
    Die Frau schüttelte den Kopf. »Wenn du ein Dschinn wärst, wäre ich inzwischen längst in meinem Auto und auf dem Weg zurück ins Hotel. Stattdessen diskutieren wir hier darüber, was du bist. Wirst du mir nun helfen oder nicht? Sie haben mir gesagt, dass ich die Schweinerei hinterher beseitigen muss.«
    Wider Willen wurde ich neugierig. Eleanor ließ sich von einer Menschenfrau einen Gefallen erweisen, und was immer das auch sein mochte, hinterließ eine Schweinerei? Dennoch ließ ich meine Stimme möglichst desinteressiert klingen. »Also gut. Von mir aus. Zeig sie mir.«
    Die Menschenfrau führte mich ein paar Schritte in den Wald hinein, holte dann eine kleine weiße Taschenlampe aus ihrer Handtasche und richtete den Strahl auf den Boden.
    Da lag eine Leiche. Irgendwie hatte ich es geahnt. Ich hatte natürlich schon tote Menschen gesehen, aber diesmal war es anders.
    Es war eine Fee. Keine schöne Fee wie ich – eher das Gegenteil. Sie war klein und verschrumpelt, und ihr weißes Haar lag wie Stroh auf ihrem grünen Kleid. Ein Fuß mit Schwimmhäuten zwischen den Zehen ragte unter ihrem Gewand hervor.
    Aber sie war trotzdem wie ich, denn sie war

Weitere Kostenlose Bücher