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Mitternachtskinder

Mitternachtskinder

Titel: Mitternachtskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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Liste?«
    »Ich«, antwortete Paul.
    »Du?«
    »Ja. Und noch ein Haufen Namen, die mir nichts sagen. Und Sullivan. Und du. Und – ich kannte ihren Namen nicht, ehe du ihn mir genannt hast, aber sie steht auch darauf. Dee. Deirdre Monaghan heißt sie, oder? Mann, ich glaube, wir werden alle sterben. Ziemlich bald.« Weitere Schluckgeräusche. »Hältst du mich jetzt für verrückt?«
    Unter meinen Fingern ballte Nualas Hand sich zur Faust. »Ich halte dich nicht für verrückt. Du hättest es mir längst erzählen sollen. Ich glaube dir.«
    »Ich weiß«, meinte Paul.
    Mich schauderte es.
    »Ich weiß, weil du jedes Mal wegläufst, wenn er singt. Aber wenn ich es dir erzählt hätte und du mir gesagt hättest, dass du es auch hörst, dann wäre das alles wirklich wahr, weißt du?«
    Nuala lockerte die Finger und drehte langsam meine Hand herum, bis die Worte, die ich auf den Handrücken geschrieben hatte, für mich sichtbar wurden:
die Liste.
    Scheiße,
dachte ich.
    »Ja«, flüsterte sie leise.
    »Als ich herkam, dachte ich, dieser Mist würde aufhören.« Pauls Stimme klang traurig.
    »Dachte ich auch«, gab ich zurück.
     
    Ich ließ Paul auf dem Bett zurück, wo er seinen eingebildeten Rausch auszuschlafen begann, und zog mich ins Bad im dritten Stock zurück. Ich wusste, dass es dumm war, sie anzurufen, weil ich mich danach sicher auch nicht besser fühlen würde, aber ich war ziemlich erschüttert von Pauls Enthüllung. Aus dem Gleichgewicht gebracht. Es war eine Sache, wenn ich selbst in irgendeine übernatürliche Intrige verwickelt war. Es war etwas ganz anderes, von Dees Namen auf einer Liste von Toten zu hören und befürchten zu müssen, dass auch sie bis zum Hals in irgendetwas drinsteckte.
    »Dee?«
    Ich zupfte ein Stückchen abgeblätterte grüne Farbe von der Ziegelwand. Die Nacht vor dem kleinen Fenster neben meinem Kopf war so schwarz, dass ich mich mit dem Handy am Ohr darin sehen konnte wie in einem Spiegel.
    »James?« Dee klang überrascht. »Du bist es tatsächlich.«
    Einen Moment lang schwieg ich. Einen Moment lang tat es zu weh, sie am anderen Ende der Leitung zu wissen, und die Erinnerung an ihre Worte nach dem Kuss erstickte mich beinahe.
    Ich musste etwas sagen. »Ja. Feiert ihr wüste Orgien da drüben?«
    Laut und klar und ganz nah hörte ich einen Nachtvogel rufen. Ich konnte nicht sagen, ob er direkt vor meinem Fenster saß oder ob der Ruf von Dees Seite kam. Ihre Stimme war leise. »Wir gehen gerade ins Bett. Das ist unsere Version einer wüsten Orgie.«
    »Wow. Ihr wilden Weiber, ihr.« Ich biss mir auf die Lippe.
Frag sie einfach.
»Dee, weißt du noch, wie wir uns hier zum ersten Mal getroffen haben? Weißt du noch, was du mich da gefragt hast?«
    »Du glaubst wohl, ich hätte ein Gedächtnis wie ein Elefant, dass ich so weit zurückdenken kann. Oh.
Oh.
Das.«
    Ja, das. Als du von mir wissen wolltest, ob ich die Feen gesehen hätte.
»Hast du noch welche gesehen?«
    Eine lange Pause. Dann: »Was? Nein. Nein, ganz sicher nicht. Warum, du vielleicht?«
    Meine Haut duftete immer noch nach Nuala, nach Sommerregen und Holzrauch. Ich seufzte. »Nein. Ist … alles in Ordnung mit dir?«
    Sie lachte ein kleines, niedliches, unsicheres Lachen. »Ja, natürlich. Ich meine, äh … abgesehen davon, dass ich durchgeknallt bin. Oder?«
    »Ich weiß nicht. Deswegen frage ich dich ja.«
    »Dann ja, es ist alles okay.«
    Tonlos entgegnete ich: »Keine Feen.«
    »Pssst.«
    »Warum pssst?«
    »Nur weil sie nicht mehr in der Nähe sind, schreie ich dieses Wort noch lange nicht von den Dächern«, erklärte Dee. »Es ist alles in Ordnung.«
    Lange sagte ich nichts. Ich war nicht sicher, was ich erwartet hatte. Zumindest jedoch Ehrlichkeit. Was sollte ich tun, ihr die Lüge auf den Kopf zusagen? Seufzend lehnte ich den Kopf an die schmuddelige Wand. »Ich wollte mich nur vergewissern.«
    »Danke«, sagte Dee. »Das bedeutet mir viel.«
    Ich betrachtete mich in den alten, schmalen Spiegeln an der gegenüberliegenden Wand. Der James im Spiegel starrte mich stirnrunzelnd an, und die hässliche Narbe war so dunkel wie seine zusammengezogenen Augenbrauen.
    »Ich muss jetzt Schluss machen«, sagte Dee.
    »Okay.«
    »Bis dann.«
    Ich legte auf. Sie hatte mich nicht gefragt, ob bei mir alles okay war.

[home]
    Nuala
    Einer schrecklichen Menagerie gleichen meine Gefühle,
    zu viele, zu verschieden, um alle aufzuzählen.
    Wie Lebewesen kriechen sie und kreisen über mir
    Und reißen meinen Körper in

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