Mitternachtskinder
ich. Ich hatte mir nur nicht erlaubt, daran zu denken. »Leben, richtig? Menschliches Leben.«
»Jahre, Pfeifer. Sie nimmt jenen, die sie mit ihrer Inspiration beglückt, Jahre ihres Lebens. Dir hat sie aber nichts genommen, oder?« Sanft faltete Eleanor die Hände im Schoß und blickte zärtlich darauf hinab, als bereitete ihr das Arrangement ihrer miteinander verschlungenen Finger große Freude. »Wie gesagt, Sentimentalität ist eine gefährliche Sache. Und so menschlich.«
Ich zitterte, sowohl vor Kälte als auch wegen der Nähe zu Eleanor. Alles in mir schrie, dass sie ein altes, wildes Geschöpf war und ich
fliehen
musste. Es kostete mich große Willenskraft, nicht einfach Nuala hochzuheben und davonzulaufen. »Wie viel braucht sie?«
Eleanor hob den Kopf und lächelte mit einer schrecklich schönen Reihe perlweißer Zähne, und mir wurde klar, dass sie auf diese Frage gehofft hatte. Aber das war mir egal. Ich wollte es nur wissen.
»Ich denke, zwei Jahre dürften ihr bis Halloween reichen«, antwortete Eleanor und lächelte wieder auf ihre Hände hinab, ein zartes, geheimnisvolles Lächeln, das das Gras um uns herum erzittern ließ. »Sie
wird
verbrennen, weißt du? Ihr Körper überdauert nur sechzehn Jahre, selbst wenn sie sich menschliches Leben nicht versagt. Deshalb geht sie alle sechzehn Jahre hin und verbrennt freiwillig, das arme Ding. Wenn sie sich nicht selbst abfackelt …« Eleanor zuckte mit den Schultern. »… wird sie endgültig sterben, das ist ihr bewusst. Natürlich wird sie
jetzt
wohl ohnehin sterben.«
Ganz kurz schloss ich die Augen. Ich wollte sie für länger schließen, um nachzudenken. Aber die Vorstellung, Eleanor so nah bei mir zu haben und sie nicht jede Sekunde im Auge zu behalten, war einer der gruseligsten Gedanken, die es überhaupt gab. »Wie mache ich das?«
Sanftmütig sah Eleanor mich an. »Was denn, Pfeifer?«
Ich verbiss mir mühsam ein Knurren. »Wie gebe ich ihr zwei Jahre meines Lebens?« Zwei Jahre waren nicht viel. Wenn ich erst ein alter Kauz war, konnte es mir egal sein, ob ich zwei Jahre früher starb. Ich würde alles tun, um Nualas klamme Haut zu wärmen und wieder Farbe in ihre Lippen zu bringen.
»Aber du weißt, dass sie dich vergessen haben wird, wenn sie verbrannt ist.« Eleanors Lippen waren jetzt geschürzt wie eine zauberhafte Rose, doch ihre Augen glitzerten. Sie war wie ein kleines Kind, das schier platzte, weil es endlich ein Geheimnis mit jemandem teilen wollte.
»Das dachte ich vorher auch«, sagte ich. »Aber Ihr kennt vermutlich eine Möglichkeit, um das zu verhindern.«
Im Morgengrauen dehnte sich ihr Mund zu einem breiten Streifen der Freude aus, der mich an Schmetterlinge, Blumen, Sonnenschein, Tod und Fäulnis erinnerte. »Wahrhaftig«, hauchte sie. »Niemand kann behaupten, ich sei meinen Untertanen keine wohlwollende Königin. Wenn sie dir genug vertraut, um dir ihren wahren Namen zu nennen, Pfeifer, ihren richtigen Namen, der dir erlauben wird, sie zu beherrschen, die sie trotz allem eine Fee ist, dann kannst du ihre Erinnerungen retten. Du musst ihrer Verbrennung von Anfang bis Ende zusehen, und während sie brennt, musst du siebenmal ohne Unterbrechung ihren wahren Namen sagen. Wenn sie sich aus der Asche erhebt … wird sie sich an alles erinnern.«
Meine Haut kribbelte vor Misstrauen, doch was Eleanor gesagt hatte, klang plausibel. Dennoch musste ich fragen: »Warum wollt Ihr ihr helfen?«
Eleanor hob leicht die Hände, als schlage sie ein Buch auf, und zuckte geziert mit den Schultern. »Aus reiner Großzügigkeit. Und jetzt beeilst du dich besser und küsst sie, Pfeifer. Atme ihr zwei Jahre ein, wenn das dein Wunsch ist.« Damit stand sie auf und klopfte sich mit bleichen Händen die Knie ab. »Ciao.«
Die Luft erbebte um sie herum, ich spürte etwas an mir zupfen, und sie war verschwunden. Die Sonne ging auf, und Nuala ging unter.
Ich strich ihr das Haar aus dem sommersprossigen Gesicht und drückte die Lippen sacht auf ihre. Es fühlte sich nicht so an, als würde ich Nuala küssen. Es war, als küsste ich eine Leiche. Nichts geschah. Ich küsste ein sterbendes Mädchen, und nichts passierte.
Zwei Jahre, Nuala. Das ist nicht so lange. Ich möchte sie dir schenken. Nimm sie einfach.
Ich küsste sie wieder und atmete in ihren Mund aus.
Noch immer schien es nicht so, als würde sich etwas tun. Verflucht. Sollte sie nicht sofort zum Leben erwachen, wenn es funktioniert hatte? Ich versuchte es noch einmal – drei ist
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