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Mitternachtskinder

Mitternachtskinder

Titel: Mitternachtskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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die magische Zahl, nicht wahr? – und malte mir so deutlich wie möglich aus, dass meine Lebenskraft in sie hineinströmte. Es machte mir nichts aus, wenn sie sich zwei Jahre nahm. Oder auch zehn. Ihr Kopf fiel nach hinten, und sie bekam überall eine Gänsehaut. Die Haut sah kalt und tot aus wie bei einem tiefgefrorenen Hühnchen.
    »
Verdammt noch mal,
Nuala!« Meine Hände zitterten. Hin und wieder schüttelte es meinen ganzen Körper vor Kälte. Ich schob die Finger in die Tasche und fischte mein Handy heraus. Mit einer Hand klappte ich es auf, schloss die Augen und versuchte, mich an die Form zu erinnern, die die Zahlen in meinem Kopf bildeten. Ich stellte mir vor, sie seien auf meine Hand geschrieben, und dann hatte ich sie. Ich drückte auf »Wählen«.
    Es klingelte zweimal, bis Sullivan sich schläfrig meldete: »Hallo?« Pflichtbewusst fügte er hinzu: »Thornking-Ash, hier spricht Patrick Sullivan.«
    »Ich brauche Sie«, sagte ich. »Ich brauche Hilfe.«
    Die belegte Stimme klang plötzlich viel wacher. »James? Was ist los?«
    Ich wusste nicht, wie ich darauf antworten sollte.
In meinen Armen stirbt gerade ein Mädchen. Meinetwegen.
»Ich bin … Ist sonst schon wer auf? Ich muss jemanden ins Haus bringen. Ich brauche Hilfe.« Ich merkte, dass ich mich wiederholte, und hielt den Mund.
    »Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst, aber ich schließe jetzt die Hintertür auf. Sofern du das nicht schon getan hast.«
    »Ich bin in ein paar Minuten da«, entgegnete ich. Sullivan redete noch, als ich das Handy zuschnappen ließ und wieder in die Tasche steckte. Ungeschickt schob ich einen Arm unter Nualas Achsel hindurch, den anderen unter ihre Knie. »Komm schon, Süße.« Ich kam taumelnd auf die Füße. Mein Sweatshirt fiel zu Boden. Egal. Ich würde es später holen. Ich watete durch das hüfthohe Gras, bis ich das Schulgelände erreichte, und ging dann außen herum zur Rückseite des Wohnheims.
    Sullivan erwartete mich in seiner Jogginghose. Schweigend hielt er mir die Hintertür auf, während ich Nuala und mich seitwärts hindurchmanövrierte.
    Er sagte nur: »Meine Zimmertür ist offen.«
    Bei ihm duftete es immer noch nach der Zimtkerze und den Gänseblümchen, obwohl von beidem nichts mehr zu sehen war. Dafür waren seltsamerweise Unterlagen über den gesamten Boden verstreut. Sullivan zeigte auf sein Bett, das ordentlich gemacht war. Durch das Fenster fiel kühles Sonnenlicht herein und zeichnete ein Rechteck darauf.
    Ich hätte sie vorsichtig aufs Bett legen sollen, aber meine Arme brachten mich um. Also ließ ich sie halb aufs Bett gleiten, halb fallen.
    Sullivan beugte sich über meine Schulter. »Ist sie eine Schülerin?«
    »Nein.« Ich strich ihr das Haar aus dem Gesicht. »Helfen Sie ihr.«
    Ein wenig hilflos lachte er auf. »Du setzt ja großes Vertrauen in mich. Was hat sie denn?«
    »Ich weiß es nicht. Ich glaube, es liegt an mir.« Ich sah ihn nicht an. »Sie ist eine Fee. Sie ist die Muse.«
    »Herr im Himmel, James!« Sullivan packte mich am Oberarm und riss mich herum. »Du hast doch gesagt, du hättest keinen Pakt mit ihr geschlossen. Was zum Teufel macht sie dann in meinem Bett?«
    Seine Finger hielten meinen Arm umklammert, und ich stand da, starrte ihn an, zitterte immer noch und schämte mich dafür. »Ich habe keinen Pakt geschlossen. Deshalb ist sie ja hier. Sie hat nichts von mir genommen, und ich glaube, sie stirbt. Sullivan, bitte.«
    Er starrte mich stumm an.
    »Bitte.«
    Meine Stimme hörte sich seltsam an. Dünn. Verzweifelt.
    Sullivan stieß den Atem aus und ließ mich los. Lange rieb er sich das Gesicht und trat dann wieder zu mir ans Bett. »James, du musst dich irren. Die
Leanan Sidhe
schwindet dahin, wenn sie nichts bekommt. Sie kann nicht sichtbar bleiben. Diese Fee … dieses Mädchen … Das ist eine menschliche, körperliche Reaktion.«
    »Sie ist kein Mensch.«
    Sullivan legte Nuala die Hand auf die Stirn und ließ den Blick über ihren Körper schweifen. »Sie ist sehr dünn«, bemerkte er. »Wann hat sie zuletzt etwas gegessen?«
    »Was? Ich weiß es nicht. Sie isst kein normales Essen.« Doch noch während ich das sagte, erinnerte ich mich an das Reiskorn an ihrer Lippe.
    »Gehen wir davon aus, mir zuliebe. Deck sie zu. Sie ist eiskalt.«
    Er verschwand in der Kochnische, und ich hörte, wie der kleine Kühlschrank geöffnet wurde. Ich zog die Bettdecke unter Nualas Beinen hervor und deckte sie damit zu. Mit dem Finger streichelte ich über ihre kalten

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