Mitternachtslöwe (German Edition)
Gesetz und Zeit euch zu verführen.
Gier und Selbstsucht dieses Land bewohnen,
könnt schon den Atem der Wächter nahe spüren.
Am Spitz des Dreizacks die Jagd beginnt,
im Hain des Schäfers man euch zusammen find.
Kyn
Der edle Stab der Natur
Die Wahl des Menschen zwischen dem
bösen linken und dem guten rechten Weg
Entscheidung, Hitzigkeit, Können
Trul
Der Sommer zog in einem Atemzug vorüber. Vom Herbst blieb nichts als ein heiserer Schrei des Wunsches seine Farben über das Land zu streuen. Als würde sie verkehrt herum durch die zerbrochene Optik eines Teleskops blicken, entfernte sich alles von Sophia. Die Insel inmitten des Feldes brach zusammen, um Platz zu machen für ein Eisgebirge, dass daraus emporwuchs, Gräser brachen zu dichten, schneebedeckten Tannenwäldern aus. Die Sonne welkte, bis der allsehende Wächter dieses Landes seinen blauen Abendschein warf.
»Nein... nein das kann nicht sein!« Sophias Augen starrten in das Schneegestöber. »Das ist unmöglich!« Hastig holte sie das kleine Büchlein ihres Vaters heraus und blätterte wild suchend, als würden auf eine der Seiten die Worte stehen, die sie auszusprechen versuchte. Aufmerksam horchte Sophia auf. Wolfsgeheul. »Lauft!«
Sophia schubste Abaris und Byrger vor sich weg. »Rennt! Die Wächter kommen! Sie dürfen uns nicht kriegen!« Aus dem dichten Wind aus weißem Schleier preschten sie heran, als wären sie schon immer da gewesen. Ihre wachenden Augen schwebten wie bleiche Masken immer näher. Ihr Geheul fror Sophia den Atem ein. Im Lauf mit dem Wolfsrudel verlor sie Byrger und Abaris. Jede Pfotenlänge, die die Wächter sich Sophia näherten, gab dem Wind mehr Kraft und bot sich ihr immer gewaltiger entgegen.
Klamm vor Kälte stapfte Sophia auf der Stelle. Das Schneetreiben rumorte unentwegt aus allen Winden. Die weißen Wolfswächter von Trul holten sie ein. Bevor sie Sophia zerrissen, zerfielen sie zu Schnee und rieselten auf sie nieder. Das Unwetter lag still.
Auf einer kleinen Bergkuppe stand jemand mit weit ausgestreckten Händen, umschlossen von magischem Glühen. Sein zügiger Atem flog wie ein Seidenschal im Wind aus seinem Mund davon. Müde senkte er die Arme. Wackeligen Schrittes, so wie sehr alte Männer es nach einem ereignisreichen Tag pflegen zu schreiten, kam er den Berg hinunter und lüftete die Kapuze seines schweren Pelzmantels. Seine vereisten Barthaare klimperten aneinander, wie hunderte kleine Glocken.
»Sophia«, sprach er mit der Stimme ihres Vaters und da sah Sophia sein eisiges Gesicht, wie es vor Herzensgüte begann zu tauen. »Sag, ist dies ein weiterer Traum«, sprach ihr Vater mit Zittern, »ein neues Trugbild, dass mir die Dämonen von Trul in meinem Geist bescheren?«
»Nein«, flüsterte sie unter Tränen, »ich bin ganz bestimmt echt!« Und für einen kurzen Moment war Sophia wieder das kleine Mädchen, das einsam im Wald saß, verstoßen von ihren Eltern. Aber all der Kummer und Schmerz ging dahin, fand keinen Platz bei soviel Wärme und Geborgenheit.
»Schnell... bevor die Wächter wiederkommen! Achte auf den Schnee, wenn er dich niederdrückt, kommen sie!« Er packte Sophia bei der Hand.
Sie scheuchten sich durch die Hügel und Wälder Truls. Die weite Landschaft glich einer überfüllten Zuckerdose eines neckischen Apothekers, der diese voller Absicht mit Salz gefüllt hatte. Ganz zu seinem Vergnügen und nur um sich an den verzerrten Gesichtern jener zu laben die glaubten ihre süßesten Träume hier zu finden. Grinsend hing er über ihnen und streute freudespringend eine weitere Priese über sie hinweg.
»Tempo!«, Sophias Vater zerrte an ihr, »Da sind sie wieder!«
Eine weiße Flockenwand fuhr auf sie nieder. Dazwischen, wie scheue Sterne die sich jeden Blickes davonzustehlen versuchen, tobten die Schemen der Wölfe herbei.
»Sophia!«, prustete ihr Vater im Lauf, »Du musst mir jetzt vertrauen. Lass meine Hand nicht los!«
Noch bevor Sophia nachdenken konnte, und schneller als Herz und Beine hätten stehenbleiben können, schnitt sich das Land vor ihnen auf, wie am Reisbrett mit breitem Kohlestift durchteilt. Ihr Vater sprang. Doch voller Angst löste Sophia ihre Hand von ihm. Sie taumelte, musste mit ansehen, wie ihr Vater in einem großen Spritzer versank.
Der Schnee schlug auf Sophia ein, die Mäuler der Wächter traten aus dem weißen Schleier. Sophia schloss die Augen und lies sich fallen. Wie beim Eintauchen in zu heißes Badewasser
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