Mitternachtslöwe (German Edition)
ihre Wärme überall am Körper.
Vor ihnen erschien ein Baum – oder war er vorher schon dort gewesen? Sophia wusste es nicht mehr. Viel „Baum“ war jedoch nicht mehr übrig. Eigentlich bestand er nur aus einem dicken Stamm mit zwei vertrockneten Ästen, einer zu jeder Seite zeigend, als hätte jemand ein Ypsilon mitten auf die Wiese gepflanzt. Beinahe unsichtbar, auf dem rechten Ast, wartete eine einsame Knospe, wartete, dass ihr jemand einen Grund gab aufzusprießen.
»Ja tritt mich der Teufel!«, sprang Sophias Vater aufgelöst darauf zu, »Das ist die Rune Kyn! Oh, ein weiteres Mal wird unser Können auf die Probe gestellt!«
»Die Zeit der Probe ist vorbei, bewährt habt ihr euch gut.« Hinter dem Stamm hervor, oder aus ihm hinaus, trat ein schaurig schönes Wesen. Seine Haut glich gebackener Borke und der Duft nach regennasser Erde im Sonnenschein wallte durch das Gras. In Sophias Kindertagen erzählte ihr Vater oft von den Faunen, die in den Wäldern mit der Magie der Natur sprießen ließen wo nichts mehr sprieße. Immer hatte er bedauert noch keinen getroffen zu haben. Bislang. Vorsichtig wichen alle ein wenig zurück, während ihr Vater unerschrocken blieb.
In flüsterndem Sprechgesang, der an das Herbeirauschen des ersten Frühlingstags anmutete, fing der Faun an zu singen:
Einst saß ich im Tal aus Blumen weit,
blühend Geäst, nach Trost es schreit.
Ein Windhauch trug her die Melodei,
durchbrochen von pfählendem Geschrei.
Dort wo die Sonn' am kühlsten scheint,
wo der Welten Seele bitter weint.
Wird Löw von Nacht erhellen was,
den Mensch berührt, hat fallen lass'.
Als hätte er in ewigem Schlaf geruht, knirschten die Gelenke des Faun beim Tanzen, wie die Äste eines alten Weidemanns im Wind. »Willkommen im Hein des Schäfers, Menschenkinder. Reydu wurde ich genannt, lang vor Eurer Zeit. So sollt auch ihr mich nennen. Viele Blätter sind gefallen, sah ich einen von euch hier zuletzt. Doch seid ihr hier, am Scheidepunkt eures Schicksals. Wählen sollt ihr nun den Weg der eure Bestimmung fort führt oder die Welt im Schatten des Übels verdorren lässt. Folgt dem Wind durchs Gras zur Sonne hin«, Reydu zeigte mit seinen Armen aus geflochtenem Geäst in den Osten, »oder lasst euch treiben in die Nacht«, er machte eine Geste in den Westen.«
»Goldene Sonne, goldener Löwe«, sagte Sophias Vater. »Der rechte Pfad zur Erleuchtung.«
Aber in Sophia lag die Entscheidung noch längst nicht auf dem Silbertablett. Innig tauschte sie mit Reydu den Blick. Ein Summen ging durch ihren Kopf und erreichte ihre Lippen. Sie summte Reydus Liedchen und versuchte sich an die Verse zu erinnern. Schnell hatte sie die Worte wiedergefunden. Als hätte sie stumm ihre Gedanken preis gegeben, nickte Reydu.
»Nein«, sagte Sophia, »Es ist der andere Weg.« Man sah sie verblüfft an. »Die Dunkelheit der Nacht soll uns nicht schrecken, wenn der Löwe uns leuchtet.«
Abaris stöhnte. »Der Löwe...«, sagte er leise, fast flüsternd. »Der Löwe!«, schrie er, »Wo ist er denn, der Löwe? Wir haben die Schätze, aber von einem Löwen habe ich bislang noch nichts gesehen.«
»Abaris, so hör doch. Ich will sagen, dass du recht hattest, wir müssen uns dem General stellen. ›Dort wo die Sonne am kühlsten scheint, wo der Welten Seele bitter weint.‹ Nur dort wo Dunkelheit und Schatten wohnen, kann ein Licht etwas bewirken. Und wo gibt es mehr davon als im Tal des Adlers.«
»Sophia, Kind – wie konnte ich das nur übersehen«, sagte ihr Vater. »All die Jahre lehrte ich dir diese Dinge und habe sie selbst dabei vergessen. Und du glaubtest ich wäre enttäuscht. Dermaßen von Stolz erfüllt wie ich es bin, würde ich eher platzen, als an ihm zuneige zu gehen.«
Sophia holte das Fläschchen mit der Tinktur hervor. Byrger griff nach dem Stein, der über seiner Hand schwebte und Abaris hielt seinen Bogen dazu. Vielleicht war dieses Vorhaben noch mehr von Wahnsinn durchdrungen als ihre Flucht aus Trul. Der Weg dies rauszufinden führte ins Unbekannte und auf welche Weise diese Artefakte ihnen dienlich sein würden, würde sich ebenso zeigen müssen.
»Seele liebt«, zitierte Sophia Paracelsus.
»Geist führt«, sagte Byrger.
Abaris haderte. Er schaute in die Runde. Entschlossen und aus voller Überzeugung sagte er schließlich: »Körper kämpft.«
Sophia fühlte sich wie ein Titan, geschmiedet aus drei Elementen die unabdinglich zusammengehörten. Und erstmals, seit Maria von ihr ging, fühlte
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