Mitternachtslöwe (German Edition)
bald beruhigte sich das Mädchen und weinte auch nicht mehr.
»Werden wir auch sterben?«, fragte Maria.
Sophia wusste zunächst nicht was sie dem kleinen Mädchen antworten sollte, hatte sie sich diese Frage doch schon selbst gestellt. »Nein«, sagte sie schließlich, »Ich habe ein paar Freunde, die uns helfen werden. Zusammen werden wir von hier verschwinden. Allesamt.«
Wenn sie Maria so ansah und hörte was sie sagte, war Sophia so, als blicke sie in ihre eigene Vergangenheit. Damals war sie es, die sich hilflos und verloren vorkam. Sie wusste genau, wie sich das Mädchen fühlen musste. Eine ganze Welt um sie herum war zersplittert und nicht mehr zusammenzusetzen. Sie würde sie hier herausholen, um jeden Preis.
Draußen begann es zu regnen. Dicke Tropfen klopften vereinzelt auf das Dach des Schuppens, bis eine ganze Schar von ihnen ein Trommelkonzert aus Wasser anstimmte.
Obwohl Sophia nur wenige ihrer jungen Jahre bei ihren leiblichen Eltern verbracht hatte, erinnerte sie sich an den letzten Abend bevor sie von ihrem leiblichen Vater im Wald ausgesetzt wurde. An jenem Abend spielte der Regen die selbe Symphonie auf dem Dach der kleinen Hütte in der sie wohnten. Ihre Mutter saß an ihrem Bett und sang unter Tränen ein letztes Mal Sophias liebstes Schlaflied.
Zunächst erinnerte sich Sophia nur an die Melodie. Leise summte sie sie vor sich her. Nach und nach sammelten sich die Worte, bis sie sich schließlich zu vollständigen Zeilen vereinten. Mit Maria in ihren Armen sang Sophia, bis das Mädchen eingeschlafen war.
Der Mond steht hoch am Himmelszelt,
scheint hell hinab auf unsre Welt.
Erzählt Legenden von dem Land,
das einst Lemuria genannt.
Von jedem Seemann lang gesucht,
von alten Göttern einst verflucht.
Sagenumwobenes Land Mu,
in stiller Tiefe ruhst heut du.
Die Sterne deuten dir den Weg,
zur Insel hin der Wind dich trägt.
Niemand in der Gefängniszelle hatte geschlafen. Abaris und Byrger sowieso nicht, angesichts der Tatsache, dass dies ihre letzten Stunden, die sie lebend verbrachten, sein sollten. Die anderen Gefangenen hatten mitbekommen, dass eine Verfütterung bevorstand und bangten um ihr eigenes Wohlergehen.
Die ganze Nacht hindurch hatte es stark geregnet. Auch jetzt noch hingen finstere Wolken am Himmel und ergossen ihre Tränen wie in Trauer um die bald Dahinscheidenden. Ihre Kleidung war bis zum letzten Bindfaden durchnässt und der lehmige Boden des ganzen Lagers verkam zu einer rutschig, matschigen Brühe. So manch ein Federmantel hatte sich beim Versuch von einer Hütte zur anderen zu gelangen, fluchend im Matsch wiedergefunden. Keine guten Bedingungen, um eine Flucht anzutreten.
Auf dem gesamten Gelände tummelten sich immer mehr Soldaten. Sie huschten von einer Hütte zur anderen, jeder schien etwas zu tun zu haben. Das konnte nur eins bedeuten: das große Ereignis stand bevor.
Abaris ging noch einmal alles im Kopf durch. Er dachte an Sophia, hoffte es ginge ihr gut und dass er sie bei ihrem Reißaus aus den Fängen dieses widerlichen Vitus befreien könne. Auch an Odilo dachte er.
Dieser erbärmlich Verräter. Dafür wird er noch büßen!
Nach und nach versammelten sich die Soldaten des Regimes auf dem Platz, wo am Abend zuvor das Lagerfeuer gebrannt hatte. Es ging los.
»Ich hoffe nur das klappt«, flüsterte Abaris Byrger zu.
»Es sind viele. Eine Herausforderung«, sagte Byrger unbeeindruckt.
Abaris schätzte sie auf drei Dutzend. Gut die Hälfte hatte Fackeln dabei. Ständig zischten die Flammen auf, wie ein Hilfeschrei ums Überleben, wenn sie von einem der Wasserperlen von oben getroffen wurde. Auf ihre schwarzen Rüstungen hämmerten die Tropfen wieder, als würde eine Arme Kobolde auf winzigen Blechtrommeln zum Kampf ein Lied anstimmen. In ihren Gesichtern war Aufregung und Freude zu erkennen, doch auch die Gier nach Blut.
Die Tür einer Hütte öffnete sich und Vitus trat heraus. Die Soldaten jubelten und grölten, klopften mit ihren Handpanzern, Streitkolben und Donnerbüchsen auf ihre Rüstung. Nach ihm kam Sophia. Unfreiwillig an der dicken Kette zog Vitus sie hinter sich her.
Und noch jemand trat heraus. Schwarzer Umhang, schwarze Rüstung, fülliges Haar, Oberlippen- und kleiner Kinnbart – Odilo! Eigentlich hätte Abaris wütend werden müssen, ja er wollte es sogar, aber er war einfach nur enttäuscht. Odilo hatte sich verkauft.
Vitus hob beide Hände und die Menge verstummte. »Holt die Gefangenen!«, brüllte er.
Mehrere der
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