Mitternachtslöwe (German Edition)
Schreicheleien.
In der Nacht schaffte Sophia es nicht einen Moment lang ruhig die Augen zu schließen. Sie war zu sehr angespannt, hätte doch jeden Moment die Tür ihres Verstecks aufgerissen werden können. Sophia grauste es bei dem Gedanken wieder in dieses widerliche Lager gesteckt zu werden, kartoffelschälend, mit einem Vitus, der sie dabei wie ein Elch zur Brunftzeit eine Elchkuh anstarrte. Nein, das würde sie um jeden Preis verhindern, schwor sie sich.
Nach ein paar Stunden verstummten die Schwätzereien der beiden Soldaten. Laut schnarchend lehnten sie an der Hütte. Von den Trinksprüchen und Lieder aus dem Inneren der Behausung hörte man auch nichts mehr.
Im Wagon hatten es sich die Reisenden derweil so wohnlich wie möglich gemacht. Auch Sophia versuchte es sich zwischen den Kisten halbwegs gemütlich zu machen. Mithilfe ihres Umhangs und Reisesacks baute sie sich ein kleines Lager, auf das sie sich zusammen mit Maria niederlegte. Ewig, so kam es ihr vor, lag sie da und starrte durch die Ritzen der Holzwand. Dort gab es nichts zu sehen, nur das schummrige Licht einer Laterne die am Balken der Hütte sachte wankte.
Sie holte ihren Dolch hervor. Minutenlang betrachtete sie das Glimmen der Buchstaben. Oft, schon als Kind, saß sie einfach da und betrachtete gebannt die magische Gravur, half ihr dies, auch in trübster Stunde, die schwärzesten Gedanken zu vertreiben. In hellblau leuchtenden Lettern hatte ihr Vater einen Vers eingravieren lassen:
~ In dir schlummert die Weisheit, die Wahrheit und das ewige Licht ~
~ Lass diese Kräfte deinen Geist durchströmen und dich von ihnen leiten ~
»Was hast du da?«, flüsterte Maria müde.
»Meinen Dolch.«
Neugierig strich das Mädchen mit ihren zarten Fingern über die Buchstaben. Ihre kleinen Augen funkelten, nicht nur vom Schein der magischen Inschrift, mehr von der Faszination, die von dem eleganten Schmiedestück ausging.
»Vorsichtig, der ist sehr scharf«, mahnte Sophia, gab der Kleinen aber voller Vertrauen den Dolch in die Hand. »Ein Geschenk von meinem Vater.«
Maria betrachtete ihn noch genauer. »Ist dein Vater ein Zauberer?«
»So etwas Ähnliches.«
Behutsam legte Maria den Dolch zurück in Sophias Hand. »Bekomme ich auch so einen wenn wir in Ulm sind?«
»Ich fürchte für so etwas werden wir keine Zeit haben«, sagte Sophia, wobei sie ihrer Stimme einen etwas traurigen Ton verlieh, »Aber ich verspreche dir, wenn wir das alles hinter uns haben werde ich dir den schönsten Dolch schmieden lassen, den es je gegeben hat. Doch vorher müssen wir uns um die bösen Männer vom Regime kümmern und dafür sorgen, dass dieser Krieg aufhört.«
Maria kroch wieder unter den Umhang. »Warum machen die Menschen Krieg?«, fragte sie mit einem großen Gähnen.
Zwar öffnete Sophia ihren Mund und setzte zum Reden an, doch es kam nichts heraus. Warum machen die Menschen Krieg? Eine einfache Frage, sollte man meinen. Warum war das Regime so böse? Was hatte ihren Anführer, den General, dazu veranlasst die ganze Welt anzugreifen und beherrschen zu wollen? Je mehr Sophia über Marias Frage nachdachte, umso mehr Fragen kamen hinzu. Es war nicht so, als hätte sie sich diese Fragen noch nie selbst gestellt, aber aus dem Mund eines so jungen Kindes bekamen die Worte eine völlig andere Bedeutung. Maria wollte eine einfache Antwort, allerdings fragte sich Sophia, ob dies dasselbe, war was sie wollte, jedes Mal wenn sie sich selber diese Frage stellte. Auf einmal kam Sophia sich verblendet vor. Es schien ihr, als wäre sie vorher zu sehr mit der Frage selbst beschäftigt gewesen, statt mit der Suche nach einer plausiblen Antwort.
Schon erstaunlich, dass es ein kleines, zehnjähriges Mädchen braucht, um sich über solch anscheint einfache Dinge ernsthafte Gedanken zu machen.
»Das wüsste ich auch gerne«, sagte Sophia schließlich, doch Maria hörte sie nicht mehr. Friedlich schlummerte das Mädchen, liebevoll umarmt von ihrer neuen Mutter.
Die Nacht ging, der Tag erwachte.
Außer Maria tat niemand ein Auge zu. Schweigend verbrachten alle geduldig die Stunden, bis die Flämmchen der Laternen an der Hütte ihre bedeutsame Aufgabe dem dunstigen Tageslicht überließen.
In aller Früh tummelten sich Federmäntel vor den Hütten. Schon bald war das Schnaufen der Eisenbahn zu hören. Durch ein Astloch sah Sophia wie dicker Rauch über die Bäume hinwegzog. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis sich der Stahlriese in Bewegung setzen
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