Mitternachtslust
stand ein Kleiderschrank. In der Luft lag der Duft von schwerem Parfüm.
»Setz dich!« Natascha deutete auf einen der mit geblümtem Stoff bezogenen Sessel. »Kaffee oder Tee? Oder möchtest du lieber Wein? Ich habe eine Flasche im Kühlschrank.«
»Kaffee wäre gut.« Melissa ließ sich in den Sessel sinken und sah zu, wie Natascha mit konzentrierter Miene in der Kochnische werkelte. Dann schweifte ihr Blick zu dem breiten Bett hinüber, dessen Fußende sie sehen konnte. Ob Natascha in diesem Bett gelegentlich Kunden empfing?
»Hierher nehme ich niemals Männer mit«, bemerkte Natascha in diesem Moment. »Es gibt spezielle Zimmer ganz oben im Haus, die zu diesem Zweck benutzt werden. In letzter Zeit ist es bei mir sowieso nicht mehr vorgekommen. Der Großteil meiner Schulden ist bezahlt. Ohnehin habe ich es nur ausnahmsweise getan, nur wenn der Mann mir sympathisch war.«
»Du musst dich nicht rechtfertigen. Das ist ganz allein deine Sache«, entgegnete Melissa hastig und dachte daran, wie sie regelmäßig Geld vom gemeinsamen Konto auf ihr eigenes überwiesen hatte. Besonders immer dann, wenn sie Richard in irgendeiner Weise zu Diensten gewesen war.
Natascha stellte eine Kanne aus feinem Porzellan, passende Tassen sowie Sahnekännchen und Zuckerdose auf den Tisch.
»Wie hübsch!« Bewundernd fuhr Melissa mit der Spitze ihres Zeigefingers über die zarten Rosenknospen auf ihrer Untertasse.
»Dieses Service ist ein Erbstück. Die letzte Erinnerung an meine Großmutter. Sie hat mich großgezogen«, erzählte Natascha, während sie die Tassen füllte. Dann schob sie Melissa Sahne und Zucker hin und ließ sich auf die Couch sinken.
»Wie geht es dir nach alldem, was passiert ist?«, eröffnete sie schlicht das Gespräch und gab Melissa damit Gelegenheit, über alles zu sprechen, was ihr auf der Seele brennen mochte.
Melissa atmete tief durch. »Ich fühle mich schuldig, weil ich nicht wirklich um ihn trauern kann. Ich erinnere mich an ihn, aber er fehlt mir nicht. Manchmal fühle ich mich einsam, aber das war ich vor seinem Tod auch.«
»Er war kein besonders liebenswerter Mensch. Du bist vielleicht sogar ein bisschen froh, ihn los zu sein. Es gehört sich aber nicht, so über seinen toten Ehemann zu denken, und deshalb fühlst du dich schlecht.«
Während sie sprach, warf Natascha ein Stück Würfelzucker in ihren Kaffee und rührte um. Melissa starrte sie erstaunt an.
»Ja, so ist es«, gestand sie schließlich. »Aber es ist nicht nur das. Die Umstände von Richards Tod. Die Dinge, die vorher geschehen sind. Eigentlich geriet mein ganzes Leben in dem Augenblick aus den Fugen, als ich anfing, den Umzug nach Hamburg vorzubereiten …«
Sie stockte, doch als Natascha schwieg, sie nur abwartend ansah, fuhr sie fort, und ehe sie sichs versah, war sie mitten in der Geschichte, von der Natascha bisher nur Bruchstücke gekannt hatte. Sie sprach über Julius, über Alexander, erzählte von ihrer freudlosen Ehe und vergaß nicht einmal die Nacht im Hotel zu erwähnen, die sie mit einem Fremden namens Christian verbracht hatte.
Natascha hörte aufmerksam zu, nippte ab und zu an ihrem Kaffee und zuckte nicht einmal mit der Wimper, als Melissa ihr erklärte, wieso sie schließlich zu der Überzeugung gelangt war, in Julius wahrhaftig einen Geist vor sich zu haben.
»Wie einsam er sich all die Jahre gefühlt haben muss, während er auf seine Annabelle wartete!«, sagte Natascha leise, als Melissa ihre Geschichte beendet hatte.
»Du glaubst mir, dass er tatsächlich ein Geist ist?«
Natascha nickte und sah in ihre fast leere Tasse. »Solange ich sie kannte, redete meine Großmutter mit meinem Großvater. Obwohl er schon lange tot war, hat sie all ihre Probleme mit ihm besprochen, und er gab ihr Ratschläge. Er war im Krieg geblieben, aber er kam sie regelmäßig besuchen. Dann saß er in seinem Lieblingssessel und rauchte seine Pfeife. Ich konnte ihn nicht sehen, aber manchmal roch ich den Tabak.«
Nataschas Lächeln wirkte wehmütig. »Es ist schwierig, mit Menschen, die niemals eine derartige Erfahrung gemacht haben, über solche Dinge zu reden. Die meisten Leute denken, was sie noch nie gesehen oder erlebt haben, existiert auch nicht.«
»Alexander hat mir nicht geglaubt, obwohl er am Anfang so getan hat.« Mit verkniffener Miene rührte Melissa in ihrer Tasse.
»Du solltest ihm das nicht zu übelnehmen. Immerhin hat er dir trotzdem geholfen. Und obwohl du ihn praktisch aus deinem Haus geworfen hast, hat er
Weitere Kostenlose Bücher