Mitternachtslust
an seiner Aussage festgehalten. Er ist für dich ein großes Risiko eingegangen.«
Wie immer, wenn sie in diesen Tagen an Alexander dachte oder über ihn sprach, brach in Sekundenschnelle die Wut wieder hervor. Sie spürte sie wie einen schweren Stein im Magen. »Er hat nicht besonders viel riskiert. Ich glaube nicht, dass dieser Kommissar auch nur einen Moment an den Worten des berühmten Malers gezweifelt hat.«
Natascha wiegte ihren Kopf hin und her, sagte aber nichts.
»Jedenfalls hat die Polizei den Fall jetzt abgeschlossen. Richards Leiche wurde nach der Obduktion freigegeben«, rettete Melissa sich auf neutraleres Terrain. »Ich fürchte mich vor der Beerdigung. Immerhin gehörte Richard zu den leitenden Angestellten eines internationalen Konzerns. Es werden also all diese Männer in ihren dunklen Anzügen da sein, sie werden Reden halten und mich von der Seite ansehen – und natürlich wissen sie alle, dass Richard keines natürlichen Todes gestorben ist.«
»Sie denken, er wurde von einem Einbrecher erschlagen. Das ist ein Unglück, genau wie ein Autounfall.« Natascha streckte einen Arm aus und legte ihre Hand über Melissas. »Ich komme zur Beerdigung.«
Augenblicklich stiegen Melissa Tränen in die Augen. »Das ist lieb von dir. Es gibt kaum Verwandte. Nur ein paar entfernte Cousins und Cousinen. Meine Freundin Susanne wird auch kommen, aber ich kann jede Unterstützung brauchen, die ich kriegen kann.«
Natascha winkte bescheiden ab. »Immerhin hast du mich zu eurem Ball eingeladen – obwohl ich dir gesagt habe, womit ich mein Geld verdiene. Sobald sie hören, in welchem Gewerbe ich arbeite, entsinnen sich die meisten Frauen sofort ihrer Hochanständigkeit.«
Durch Melissas Kopf huschte der Gedanke, dass sie mit dieser Einladung vielleicht unbewusst Richard hatte eins auswischen wollen. Sie räusperte sich und sah Natascha über den niedrigen Tisch hinweg in die Augen. Das Einzige, was sie Natascha verschwiegen hatte, war der Grund für ihre Auseinandersetzung mit Richard am Abend des Balls.
»Wahrscheinlich halte ich mich selbst nicht für so hochanständig«, stellte Melissa mehr an sich selbst als an Natascha gerichtet fest. »Auf jeden Fall bin ich froh, dich kennengelernt zu haben«, fuhr sie in festem Ton fort.
»Ich bin auch froh«, erwiderte Natascha freundlich und griff nach der Kaffeekanne mit den Rosenknospen, um Melissas Tasse neu zu füllen.
Als Melissa nach ihrem Besuch bei Natascha ihren Wagen an der gewohnten Stelle vor dem Haus geparkt hatte, blieb sie einen Moment im Dunkeln sitzen und dachte nach. Dann suchte sie im Handschuhfach nach der Taschenlampe und stieg aus.
Sie wollte mit Alexander reden. Zwar war sie sich noch nicht sicher, ob sie ihm würde verzeihen können, aber der Anstand gebot es, sich zumindest für seine Hilfe zu bedanken. Natascha hatte Recht. Schließlich hatte sie selbst am Anfang auch nicht glauben können, dass es sich bei den Vorkommnissen in ihrem Heim um mehr als eine Anhäufung von seltsamen Zufällen handelte.
Sie folgte dem tanzenden Lichtkegel der Taschenlampe durch den nächtlichen Park. Über ihr piepste verschlafen ein Vogel in einem Baum. Am Morgen hatte es geregnet, und noch jetzt lag der Duft feuchter warmer Erde in der Luft.
Je weiter Melissa sich dem Gartenhaus näherte, desto zögerlicher wurden ihre Schritte. Ihr wurde bewusst, dass sie keine Ahnung hatte, was sie sagen oder tun würde, wenn Alexander vor ihr stand. Fast konnte sie schon jetzt das zarte Vibrieren in ihrem Körper spüren, das seine Nähe unweigerlich auslöste.
Wie immer war die Haustür nicht verschlossen, und als sie in den dunklen Flur trat, hörte sie die vertrauten Rockmusikklänge. Ihre Kehle wurde noch trockener, als sie daran dachte, dass er stets mit nacktem Oberkörper malte. In ihr stieg eine schmerzliche Sehnsucht nach seiner Nähe, seiner Haut und dem ihm ganz eigenen Duft auf. Nicht einmal die Angst, zurückgewiesen zu werden, konnte sie jetzt noch aufhalten.
Sie stürmte den Flur entlang, rannte gegen einen im Weg stehenden Holzstuhl, rieb sich nur kurz die schmerzende Stelle an ihrem Knie und humpelte hastig weiter.
Die Tür zum Wintergarten war angelehnt. Melissa stieß sie auf und blieb atemlos im Türrahmen stehen.
Wie sie erwartet hatte, stand Alexander, umtost von lauter Musik, in seine Arbeit versunken vor der Staffelei. Er trug nur seine farbverschmierten Jeans. Sein Haar stand wirr in alle Richtungen ab.
Sie stieß sich vom Türrahmen
Weitere Kostenlose Bücher