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Mitternachtslust

Mitternachtslust

Titel: Mitternachtslust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: E Winter
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mit den Fingerspitzen leicht ihren Ärmel und zog auch schon wieder die Hand zurück, um den Hund zu tätscheln, der sich an seine Beine drängte und dabei eifrig mit dem Schwanz wedelte.
    »Immerhin wurde heute mein Ehemann beerdigt.« Erst als die Worte ausgesprochen waren, fiel ihr ein, dass Julius die Schuld an Richards Tod trug, wenn er auch in bester Absicht gehandelt hatte.
    »Es ist schrecklich, das zu sagen, aber ich habe ihn nicht mehr geliebt«, fuhr sie hastig fort. »Vielleicht habe ich ihn nie wirklich geliebt und er mich auch nicht. Aber es ist ein merkwürdiges Gefühl, dass er so plötzlich nicht mehr da ist. Ich fühle mich ein bisschen wie amputiert, als hätte man mir einen Arm oder ein Bein abgenommen. Vorher war mir gar nicht bewusst, wie sehr er trotz allem zu meinem Leben gehörte.«
    »Du hättest ihn niemals heiraten dürfen«, sagte Julius leise und starrte in den kalten Kamin.
    Melissa schwieg. Sie wusste nicht, ob Julius mit ihr als Annabelle oder als Melissa sprach. Ob er der Meinung war, dass seine Verlobte ihren Treueschwur gebrochen und in seiner Abwesenheit einen anderen geheiratet hatte oder ob er einfach meinte, dass Richard der falsche Mann für sie gewesen war.
    »Ich weiß, dass es ein Fehler war«, stellte sie schließlich fest, als Julius nach einigen Minuten immer noch stumm vor sich hinstarrte.
    »Wie war die Beerdigung?«, erkundigte er sich nach einer weiteren langen Pause im Plauderton.
    »Es war … sehr anstrengend für mich. All diese Geschäftsleute, die ich nicht einmal kannte und die mich die ganze Zeit anstarrten und mir ihr Beileid aussprachen … Ich war nur froh, dass Susanne und Natascha bei mir waren. Sie sind zwei wirkliche Freundinnen.«
    »Nicht jeder kann von sich behaupten, wirkliche Freunde zu haben. Ich freue mich für dich.« Wieder wischten Julius’ Finger kurz über ihren Ärmel. »Warum sind sie jetzt nicht bei dir?«
    »Ich brauchte ein bisschen Ruhe. Darum habe ich ihnen gesagt, dass ich jetzt allein sein muss.«
    »Dann werde ich jetzt auch besser verschwinden«, meinte er, und als Melissa ihn anschaute, sah sie ihn plötzlich merkwürdig verschwommen.
    »Nein, so war das nicht gemeint!«, rief sie erschrocken aus.
    Er beugte sich über sie, und seine kühlen Lippen berührten für den Bruchteil einer Sekunde ihren Mund.
    »Mach dir keine Sorgen! Die Zeit ist ein langer gerader Fluss. Es gibt unendlich viel davon, in der Vergangenheit und in der Zukunft. Nimm dir, so viel du brauchst. Ich kann warten. Eines Tages werde ich dich fragen, ob du mit mir kommst. Dann wirst du bereit sein.«
    Melissas Blick verfing sich in Julius’ Augen, die dunkel wie eine Nacht voller Irrlichter dicht vor ihrem Gesicht funkelten. Für eine kleine Ewigkeit versank sie in dieser Schwärze – dann war er fort. An der Stelle, wo er gestanden hatte, lag für einen kurzen Moment ein leichtes Flimmern in der Luft, das sich ebenfalls rasch verflüchtigte.
    Die Zeit ist ein langer gerader Fluss. Es gibt unendlich viel davon … Eines Tages werde ich dich fragen, ob du mit mir kommst.
    Gedankenverloren streichelte Melissa Bonzos Rücken. Der Hund hatte schmerzlich aufgeheult, als Julius verschwunden war. Jetzt sah er sie aus flehenden braunen Augen an.
    »Er kommt wieder«, flüsterte sie. Als hätte er ihre Worte verstanden, hörte Bonzo auf, zu winseln, und setzte sich neben ihre Füße.
    Melissa legte eine Hand zwischen die aufmerksam gespitzten Hundeohren und richtete sich auf. Ihr Blick fiel auf den Sessel, in dem Julius eben noch gesessen hatte. Zwischen der Armlehne und der Sitzfläche steckte ein kleines in weinrotes Leder gebundenes Buch.
    Erstaunt beugte sie sich vor und griff nach dem Büchlein. Als sie ihre Finger darübergleiten ließ, fühlte der Ledereinband sich glatt und weich wie feinste Seide an. Sie war sich sicher, das Buch noch nie zuvor gesehen oder gar in den Händen gehalten zu haben.
    Zögernd schlug sie es auf. Aus irgendeinem Grund wusste sie, was sie auf den Seiten finden würde. Wie so viele der Dinge, die ihr in diesem Haus bisher begegnet waren, war ihr auch das kleine Buch gleichzeitig fremd und vertraut.
    Sie starrte die zierlichen, leicht verschnörkelten Buchstaben an, die in dichten Reihen die vergilbten Seiten füllten. Die Jahre hatten das kräftige Dunkelblau der Tinte in ein blasses Violett verwandelt. Selbstvergessen folgte Melissa mit dem Zeigefinger einer der feinen Linien. Erst als eine Träne auf das Papier fiel und in einem

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