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Mitternachtslust

Mitternachtslust

Titel: Mitternachtslust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: E Winter
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vielen Stellen wegen der verwischten Tinte nur mühsam zu entziffern waren.
    »1. September 1861
    Obwohl ich es seit jenem Tag, an dem er mich zum letzten Mal umarmte, geahnt und befürchtet habe, kann ich es nun doch nicht begreifen. Ich weine, ringe nach Luft und schüttle den Kopf – wie eine Verrückte schüttle ich den Kopf, bewege ihn von links nach rechts und von rechts nach links. Es kann nicht wahr sein, weil es nicht wahr sein darf. Wir gehören zusammen! Für immer und ewig! Immer und ewig – aber es hatte noch nicht einmal richtig angefangen. Wenn ich ihm wenigstens ein einziges Mal gehört hätte, mit Leib und Seele, ganz gleich, was die Moral oder Mutter dazu sagen! Ein Mal nur, dann könnte ich es vielleicht eher begreifen und ihn irgendwann loslassen.
    Nein, auch dann nicht! Es darf nicht sein. Mein Kopf bewegt sich schon wieder. Von links nach rechts, von rechts nach links. Ich kann nicht damit aufhören, seit ich heute Morgen die Nachricht bekommen habe. Sein Vater hat es mir gesagt. Ich konnte sehen, wie schwer es ihm fiel, die Tränen zurückzuhalten, als er von dem Sturm sprach, in dem das Schiff sank, mit dem Julius auf dem Weg zurück zu mir war. Er war auf dem Heimweg, aber er wird niemals ankommen, weil sein geliebter Körper jetzt auf dem Meeresgrund liegt. Solange ich lebe, werde ich sein Gesicht so vor mir sehen: die Augen geschlossen, die wunderschönen Züge von grünem Wasser umspielt, Seegras im Haar.
    Zwei Tage, bevor das Schiff in den Hafen einlaufen sollte, ist es geschehen. Wie kann das Schicksal nur so grausam sein! Ich kann nicht aufhören, zu weinen. Nie mehr werde ich aufhören können. Nie mehr …
    19. September 1861
    Morgen ist unser Hochzeitstag. Ich habe Mutter gebeten, mir das Kleid anzuziehen, das die Schneiderin am Tag, bevor ich die Nachricht vom Tod meines Geliebten erhielt, geliefert hatte. Ich bin schon seit Tagen viel zu schwach, um mich allein anzukleiden. Es fällt mir schwer, halb aufgerichtet in den Kissen, den Stift über das Papier zu führen.
    Die Ärzte reden von einem fremdländischen Fieber. Sie wissen sich keinen Rat und verschreiben mir jeden Tag ein anderes Pulver. Natürlich können die Pulver mir nicht helfen. Mir kann nur einer helfen. Einer, der niemals zurückkehren wird … Deshalb muss ich zu ihm gehen. Es ist so einfach. Alles, was ich tun muss, ist, mich den Kräften des Fiebers zu überlassen. Ich werde meinem Schicksal folgen.
    Morgen ist unser Hochzeitstag, Julius, mein Geliebter. Nur noch drei Stunden bis Mitternacht, dann«
    Mitten im Satz brachen die Aufzeichnungen ab. Lange saß Melissa da und starrte auf den letzten, unvollendeten Satz. Dann klappte sie sehr sanft das Buch zu, das die Geschichte der Liebe zwischen Annabelle und Julius enthielt. Die Geschichte einer großen unerfüllten Liebe, die bis zum heutigen Tag, hundertfünfzig Jahre nach Annabelles Tod, keinen Anfang und kein Ende gefunden hatte.
    Annabelle hatte den Tod gesucht, um wieder mit Julius vereint zu sein, während Julius, ruhelos im Jenseits, die Kraft seiner unendlichen Liebe mobilisiert hatte, um sein Versprechen einzulösen. Er war zu Annabelle, ins Haus ihrer Eltern, zurückgekehrt, doch die Geliebte war nicht mehr hier gewesen.
    Der klare tiefe Klang der Haustürglocke riss Melissa aus ihren Gedanken zurück in die Gegenwart. Sie blieb bewegungslos in ihrem Sessel sitzen und versuchte, das erneute Klingeln zu ignorieren. Sie würde einfach nicht öffnen.
    Doch Bonzo war bereits laut kläffend zur Tür gerannt. Außerdem stand ihr Auto vor der Tür, und von draußen war das Licht in der Halle zu sehen. Der späte Besucher wusste also, dass sie zu Hause war, und hatte offensichtlich nicht die Absicht, einfach wieder zu gehen. Die Glocke schlug erneut an.
    Seufzend schob Melissa das weinrote Büchlein tief in die Ritze zwischen Sitzfläche und Lehne des Sessels und durchquerte dann in Strümpfen den großen Raum. Sie ließ sich für den Weg zur Tür viel Zeit. Vielleicht überlegte der Besucher es sich ja doch noch anders und verschwand endlich.
    Sie hatte die Eingangstür schon fast erreicht, als es ein fünftes oder sechstes Mal läutete. Mit einem Ruck drückte sie die Klinke herunter. Bonzo drängte sich an ihr vorbei durch den Türspalt und hieß den Gast schwanzwedelnd willkommen.
    »Du?«
    Sie hatte in der Zwischenzeit nahezu erfolgreich die Erinnerung an sein Lächeln verdrängt, das ihr innerhalb einer Sekunde den Boden unter den Füßen wegziehen

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