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Mitternachtslust

Mitternachtslust

Titel: Mitternachtslust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: E Winter
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19. Mai 1861.
    Er will noch vor unserer Hochzeit nach Amerika fahren! Als er es mir gestern Abend sagte, konnte und wollte ich es nicht glauben. Wir werden für viele Wochen oder gar Monate getrennt sein. Ich habe keine Ahnung, wie ich diese Zeit überstehen soll.
    Während ich von dem Schock seiner Eröffnung noch zitterte, erklärte Julius mir, dass die Firma seines Vaters, deren Führung er nach unserer Heirat übernehmen soll, zwar auf solider Grundlage stehe und durchaus ihren jährlichen Gewinn einbringe, dieser Gewinn aber eher bescheiden sei.
    ›Ich möchte dir alles bieten und dich verwöhnen können, meine schönste Annabelle‹, sagte er mit jenem zärtlichen Glanz in den Augen, bei dessen Anblick ich mich ihm immer sofort zu Füßen werfen möchte. ›Ständige Handelspartner in Amerika zu haben wäre ein gewaltiger Fortschritt für die Firma. Der Markt dort ist groß, wir könnten mit einem Schlag unsere Gewinne um zwei- oder dreihundert Prozent steigern.‹
    Ich öffnete den Mund, um ihm zu entgegnen, dass es mir nicht um Geld oder Luxus geht. Alles, was ich will, ist mit ihm zusammen zu sein. Aber ich weiß natürlich auch, dass jeder Mann seinen Stolz hat. Julius unternimmt diese Reise allein für mich. Ich sollte ihm dankbar sein, dass er schon jetzt die Zukunft unserer Familie absichern will, aber das fällt mir schwer.
    All die Tage ohne ihn liegen schon jetzt wie ein dunkler Schatten auf meiner Brust. Es ist, als müsste ich durch einen langen pechschwarzen Tunnel gehen, um jenen strahlenden Tag zur erreichen – den 20. September, den Tag unserer Hochzeit.«
    »Ich ahnte, dass er nicht zurückkehren würde«, hörte Melissa sich flüstern. »Annabelle spürte es.«
    Hastig schlug sie das Büchlein zu, damit ihre Tränen die Tinte nicht verwischten. Ein großer Tropfen fiel in ihren Schoß und hinterließ auf dem schwarzen Rock einen glänzenden Fleck. Eine Weile weinte sie still und voller Verzweiflung. Nicht nur um Annabelle und Julius, sondern auch um ihr eigenes Glück, von dem sie bisher hier und da einen Zipfel gesehen, das sie aber niemals mit beiden Händen hatte greifen können. Und sie weinte die Tränen um ihren gescheiterten Traum von einer glücklichen Ehe, die während der Bestattungszeremonie nicht hatten fließen wollen.
    Nach einigen Minuten versiegte der Strom aus ihren Augen von selbst. Sie schlug das Buch wieder auf und begann, mitten in einem Abschnitt zu lesen.
    »Ich war froh, dass ich am Abschiedstag mein dunkelrotes Kleid angezogen hatte, in dem er mich immer besonders gern sieht. Nachdem ich die ganze Nacht geweint hatte, war ich sehr gefasst. Ich wollte seine tapfere Annabelle sein, damit er unbelastet auf das Schiff gehen konnte.
    Tatsächlich gelang es mir, zu lächeln und mich nicht schreiend an ihm festzuklammern, wie ich es am liebsten getan hätte. Allerdings verlor ich in der allerletzten Sekunde dann doch die Beherrschung. Als er sich nach der letzten Umarmung und dem letzten Blick abwenden und gehen wollte, zuckte meine Hand vor und krallte sich so heftig in seinen Ärmel, dass der Stoff knirschend zerriss.
    ›Schwör mir, dass du zurückkehrst!‹, rief ich mit zitternder Stimme aus. ›Schwör es mir bei allem, was dir heilig ist!‹
    Ernst sah er mich an, nahm mich dann noch einmal sanft in seine Arme und sagte dicht bei meinem Ohr: ›Ich schwöre es, meine Liebste. Nichts kann uns trennen, nicht das Schicksal und nicht das Meer. Was auch immer geschieht, ich werde bei dir sein. Vertrau mir!‹
    Ich konnte nur stumm nicken. Hätte ich versucht, etwas zu erwidern, wäre ich in meinen Tränen ertrunken. Nachdem Julius meine Hände sanft von seinem Anzug gelöst hatte, stand ich mit hängenden Armen da und sah ihm nach. Ich hatte so große Angst wie noch nie zuvor in meinem Leben.
    Und noch immer spüre ich diese Angst. Sie schnürt mir die Kehle zu, krampft sich um mein Herz und legt sich wie ein Stein in meinen Magen. Es fällt mir schwer, zu atmen, und ich weiß jetzt schon, dass ich die Nächte schlaflos verbringen werde. Unendlich viele, unendlich dunkle Nächte. Ich habe entsetzliche Angst, ihn niemals wiederzusehen!«
    Diesmal blieben Melissas Augen trocken, obwohl auch sie die Angst körperlich spüren konnte. Als sie wahllos weiterblätterte, zitterten ihre Hände so stark, dass eines der dünnen Blätter einriss. Sie zwang sich, ein oder zwei Minuten tief und gleichmäßig zu atmen, bevor sie die letzten Seiten der Aufzeichnungen las, deren Worte an

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