Mitternachtslust
schon nach neun Uhr war, betrachtete ihr Bild in dem Spiegel, den Alexander vor einigen Tagen über ihrem Bett angebracht hatte. Zunächst hatte sie seinen Vorschlag entrüstet abgelehnt, bis er sie daran erinnert hatte, dass sie nie mehr spießig, verklemmt und voller Vorurteile sein wollte. Also hatte sie zugestimmt, es einfach auszuprobieren – und zu ihrer Überraschung größte Freude daran gehabt, ihren eigenen und Alexanders nackten Körper zu betrachten, wenn sie sich wie in einem Tanz nach stummer Musik bewegten, ineinander verschlangen und wieder voneinander lösten.
»Ganz nett!« Susannes spöttisches Lachen klang voll und klar aus dem Telefonhörer. »Du solltest deine Stimme mal hören! Du redest nicht, du singst!«
»Es geht mir eben gut.« Melissa streckte ein Bein unter der Decke hervor und wackelte übermütig mit dem großen Zeh. »Das Fotostudio wirft inzwischen sogar Gewinn ab. Vergangene Woche hatte ich doppelt so viel Umsatz wie im ganzen Vormonat. Und der Verlag, von dem ich dir erzählt habe, ist tatsächlich daran interessiert, einen Fotoband von mir herauszubringen. Ich weiß gar nicht, was ich zuerst und zuletzt machen soll, aber es macht einen Heidenspaß.«
»Besonders wenn du mit deinem Alexander zusammen bist, nicht wahr?«, bohrte Susanne.
»Alexander ist … ein ziemlich guter Liebhaber«, gestand Melissa. »Er war letzte Nacht hier, und obwohl ich nicht mehr als zwei oder drei Stunden geschlafen habe, fühle ich mich einfach wunderbar.«
»Und warum wohnt er dann immer noch in seinem Gärtnerhäuschen, und du sitzt allein in dem riesigen Gemäuer?«
»Weil …« Melissa überlegte. Es gab eine Menge Gründe, doch welcher war der wichtigste? »Ich bin immerhin erst seit drei Monaten Witwe, und die Ehe war nicht gerade die Erfüllung meiner geheimsten Träume, deshalb habe ich nicht die Absicht, mich Hals über Kopf in die nächste Beziehung zu stürzen.«
»Der Mann, den du dir für die Ehe ausgesucht hast, war der falsche, das ist alles«, widersprach Susanne energisch. Sie hatte vor, im nächsten Monat zu heiraten und war von ihrem Plan sehr überzeugt.
»Kann sein. Aber ich genieße es, frei und unabhängig zu sein. Und ich genieße die Stunden mit Alexander. Was kann ich mir sonst noch wünschen? Wer hat denn immer im Brustton der Überzeugung behauptet, man brauche keinen Mann zum Glücklichsein, am wichtigsten seien Unabhängigkeit und die Erfüllung der eigenen Träume?«
»Aber wenn man den Richtigen gefunden hat …« Susanne klang ein wenig kleinlaut. Tatsächlich hatte sie ihrer Freundin jahrelang im Bezug auf Männer ein fröhliches Leben à la carte gepredigt, nur um in dem Augenblick, in dem sie Jochen kennenlernte, eine Kehrtwendung um hundertachtzig Grad zu vollführen.
»Ich glaube, es gibt verschiedene Phasen im Leben – solche, in denen man Nähe und solche, in denen man Freiheit braucht«, beschloss Melissa versöhnlich. »Vielleicht sehe ich in ein paar Monaten die Sache völlig anders.«
»Und wie gefällt Alexander euer Arrangement?«
Melissa runzelte die Stirn, so angestrengt dachte sie nach. Tatsächlich hatte er nie die Möglichkeit erwähnt, zusammenzuleben. Er gab sich mit den fröhlichen Tagen, den romantischen Abenden und den leidenschaftlichen Nächten zufrieden, die sie regelmäßig miteinander verbrachten.
Melissa wackelte erbost mit beiden großen Zehen. Was fiel ihm eigentlich ein, sich mit dieser Unverbindlichkeit abzufinden? War er nur allzu zufrieden damit, sie als willige Geliebte, als Gesprächspartnerin und Begleitung zu Events jederzeit zur Hand zu haben? Was tat er eigentlich an den Abenden, die er allein im Gärtnerhaus verbrachte? Welche Rolle spielten seine Modelle in seinem Leben? Verliefen die Sitzungen tatsächlich so professionell, wie er immer behauptete?
Und warum um alles in der Welt hatte sie über all diese Fragen bisher nie nachgedacht?
»Was sagt er also dazu?«, drängte Susanne am anderen Ende der Leitung.
»Ich denke, er ist mit der augenblicklichen Situation ebenso zufrieden wie ich«, erklärte Melissa in bemüht gelassenem Ton.
»Übrigens hat er mir vor ein paar Tagen – angeblich war es genau vier Monate her, seit wir zum ersten Mal miteinander geschlafen haben – einen großen Spiegel geschenkt«, wechselte sie rasch das Thema. »Er hängt über meinem Bett.«
»Huch, ein Spiegel über dem Bett!«, juchzte Susanne erwartungsgemäß.
»Ich habe mich halb zu Tode geschämt, als Frau Gruber zum
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