Mitternachtslust
Zukunft steckte voller Unwägbarkeiten.
»Aber ich bin nicht Annabelle«, flüsterte sie vor sich hin.
»Du bist die, die du sein willst.« Julius’ Augen übten eine seltsame Anziehung auf sie aus. Sie machte einen Schritt in seine Richtung, noch einen und dann noch einen.
Ohne sich aus dem Sessel zu erheben, streckte er ihr seine Hand entgegen. Sie musste selbst den Weg zu ihm finden.
Fast hatte Melissa ihn schon erreicht, meinte seine kühlen Finger bereits zu spüren, als das Telefon auf dem kleinen Tisch neben ihrem Bett hektisch zu piepen begann. Wie aus einem tiefen Schlaf erwachend, hob sie den Kopf und wandte sich langsam von Julius ab, um den Anruf zu beantworten.
»Nun, wie geht es meiner wilden Königin der Nacht?«, ertönte Alexanders Stimme voller morgendlicher Energie.
»Ich … ich habe bis vor einer halben Stunde geschlafen. Susanne hat mich mit ihrem Anruf geweckt.« Melissa sah zu dem Korbsessel hinüber, über dem nur noch ein feiner Nebelstreifen schwebte.
»Faulpelz!«, schalt er sie zärtlich. »Ich bin schon seit zwei Stunden auf und habe draußen am See ein paar Skizzen angefertigt. Es ist ein herrlicher Tag. Was hältst du von einem Picknick in unserer Senke?«
»Heute Mittag bin ich mit Natascha in der Stadt verabredet, aber ein Picknick am Abend wäre toll. Ich kann Salat, Obst und belegte Brote mitbringen. Um acht Uhr am See?« Der Gedanke, vor Einbruch der Dämmerung das Haus zu verlassen, gefiel ihr gut – fast zu gut. Ihr unruhiger Blick wanderte immer wieder zu dem nun leeren Korbsessel hinüber.
»Abgemacht! Den Rest steuere ich bei. Ich freue mich.«
Nervös wanderte Melissa mit dem schnurlosen Telefon durch das Zimmer. Vor dem Kamin blieb sie stehen und spielte mit der Feder, die noch immer in der kleinen Vase auf dem Sims stand.
»Ich freue mich auch«, flüsterte sie, wandte sich dem Fenster zu und schaute in den Park hinaus. Sie dachte an den Abend, den sie vor vielen Wochen mit Alexander in der Senke am Seeufer verbracht hatte und spürte ein Kribbeln im Unterleib.
Dies war der Moment, in dem Melissa wusste, dass sie der Zukunft gehörte, der Zukunft mit all ihren Unsicherheiten und Überraschungen, mit der Möglichkeit, eine Liebe von heute auf morgen zu verlieren, aber auch sie zu bewahren, und falls das doch nicht gelang, vielleicht eine neue zu finden.
»Ich fürchte, ich habe mich ernsthaft in dich verliebt, Alexander«, flüsterte sie, ohne darüber nachzudenken. Ohnehin waren Gefühle nichts, worüber es lohnte, nachzudenken. Entweder man spürte sie, oder man spürte sie nicht. Im Grunde war alles ganz einfach.
Ein paar Sekunden blieb es am anderen Ende der Leitung still. Dann räusperte Alexander sich umständlich. »Ich habe mir sehr gewünscht, dass du das eines Tages zu mir sagen würdest, Melissa«, stieß er endlich atemlos hervor.
»Ich weiß. Aber du hättest es mir schließlich auch sagen können, Feigling.«
»Aber ich habe es dir gesagt! Ich habe dich gebeten, zu bleiben. Und schon vorher habe ich dir gesagt, dass ich für dich fühle, wie ich für Sarah gefühlt habe.«
»Vielleicht fällt dir eines Tages ein, was du stattdessen hättest zu mir sagen sollen. Das hätte die Sache vielleicht ein bisschen einfacher gemacht. Aber wir haben ja Zeit.«
Sie legte den Finger auf die Taste, die das Gespräch unterbrach, und drückte sie langsam herunter. Heute Abend würde sie Alexander sehen. Vielleicht würden sie dann weiter über dieses Thema sprechen. Vielleicht auch erst morgen oder übermorgen. Das spielte keine Rolle, denn die Dinge hatten ihren eigenen Rhythmus, und endlich war sie bereit, sich diesem Rhythmus anzuvertrauen.
Mit beschwingten Schritten lief sie die Treppe hinunter, um ein rasches Frühstück einzunehmen und dann in ihr Studio zu eilen, das sie durch einige Umbauten in der alten Küche hatte entstehen lassen. Die schmale Hintertür aus morschem Holz war durch eine breite Glastür ersetzt worden, das kleine Fenster durch große Scheiben, die bei Bedarf mit einer Jalousie verdunkelt werden konnten. Der ganze Raum war hell gestrichen und mit Glasregalen, bunten Sesselchen und einem großen hellen Schreibtisch ausgestattet worden.
Die Fotos wurden im hinteren Teil des Raumes gemacht, wo Melissa durch eine raffinierte selbst entworfene Konstruktion mehr als zwanzig verschiedene Hintergrundbilder zur Verfügung hatte. Am liebsten arbeitete sie aber draußen, wo der Park noch viel mehr Motive, Blickpunkte und Lichteinfallwinkel
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