Mitternachtslust
unterwegs eine Kleinigkeit zu essen, und verließ das Hotel.
»Vielen Dank für Ihre Mühe.« Melissa schüttelte die weiche feuchte Hand des übergewichtigen Maklers, mit dem sie den ganzen Vormittag in Hamburg unterwegs gewesen war. »Ich werde mir überlegen, welches der Häuser für uns infrage kommen könnte, und melde mich dann wieder bei Ihnen.«
Sie hatte den Überblick verloren, wie viele Häuser sie sich innerhalb von knapp fünf Stunden im Schnelldurchlauf angesehen hatte, aber anhand der Exposés, die der Makler ihr gegeben hatte, würde sie sich erinnern. Es waren mindestens sieben oder acht Mietobjekte gewesen. Und keines davon hatte ihr wirklich gefallen. Entweder waren sie zu groß oder zu klein, zu abgelegen oder zu dicht an einer Hauptverkehrsstraße. Vor allem aber hatte sie keinerlei Lust verspürt, in einem dieser Häuser zu leben.
Melissa erinnerte sich nicht genau, in welcher Nebenstraße sie ihren Wagen abgestellt hatte, jedenfalls schien es nicht die zu sein, in die sie gerade eingebogen war. Sie machte kehrt und lief in die entgegengesetzte Richtung. Die halbhohen Absätze ihrer Sandaletten klapperten über den Asphalt, ihre Füße schmerzten, und eines der Riemchen am rechten Schuh rieb erbarmungslos an ihrer Ferse.
Mit einem unterdrückten Fluch lehnte sie sich gegen eine hohe Mauer und schaute sich um. Diese Straße kam ihr völlig unbekannt vor. Erneut wechselte sie die Richtung. Falls ihr Wagen nicht am helllichten Tag in dieser guten Wohngegend gestohlen worden war, musste er irgendwo ganz in der Nähe stehen.
Gerade hatte Melissa beschlossen, die Suche systematisch anzugehen und die Nebenstraßen eine nach der anderen abzugehen, als sie überrascht innehielt. Durch ein halb offen stehendes schmiedeeisernes Tor schien das große weiße Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite sie anzustarren.Das langgestreckte Gebäude wurde rechts und links von je einem Türmchen mit spitzem Dach flankiert. Die Villa war alt und wirkte ein wenig vernachlässigt, dennoch hatte sie etwas Strahlendes, fast Unwirkliches an sich, wie eine Erinnerung an wunderbare, längst vergangene Zeiten.
Melissas Blick folgte dem geschwungenen Kiesweg, der direkt zu der Treppe führte, über die man zu der breiten Haustür aus dunklem Eichenholz gelangte. Über der Tür war ein rundes Fenster in die Mauer eingelassen, das sie wie ein wachsames Auge anzusehen schien.
Obwohl sie sicher war, niemals zuvor in dieser Straße gewesen zu sein, überkam sie das merkwürdige Gefühl, schon viele Male diesen Kiesweg entlanggegangen und die fünf Stufen zur Haustür hinaufgestiegen zu sein.
Sie stand bewegungslos da und konnte den Blick nicht von dem Haus wenden. Es wirkte verlassen. Die meisten der dunkelblauen Fensterläden waren geschlossen, einige hingen schief in den Angeln. Hinter vielen der Fenster waren die Vorhänge zugezogen. Die Blumen auf den Beeten neben der Auffahrt wucherten wild durcheinander, und auf der obersten Stufe der zur Haustür führenden Treppe lag ein leerer zerborstener Pflanzkübel.
Zögernd trat Melissa durch das schmiedeeiserne Tor. Der feine Kies knirschte unter ihren Füßen, als sie sich langsam dem Haus näherte. Fast rechnete sie damit, im nächsten Moment von ein paar wild kläffenden Doggen angesprungen zu werden, denn obwohl alles so verlassen wirkte, konnte sie sich einfach nicht vorstellen, dass ein Anwesen wie dieses wirklich leerstand.
Mit dem Gefühl, etwas Verbotenes zu tun, und dennoch unwiderstehlich von dem stillen Haus angezogen, stieg sie die breiten Stufen zur Haustür hinauf. In das massive Holz war eine kleine dunkelrot getönte Scheibe eingelassen, durch die sie in das Gebäude spähte. Die Eingangstür führte direkt in eine große Halle mit schwarz-weißem Fliesenboden.
In dem schwachen Dämmerlicht, das im Haus herrschte, konnte Melissa die leeren Garderobenhaken an der vertäfelten Wand neben dem Eingang erkennen. Sie sah einen offenen umgekippten Pappkarton direkt neben der geschwungenen Treppe zum ersten Stock und einen verbeulten, bis oben mit zerknülltem Papier gefüllten Schirmständer aus Messing.
Entschlossen legte sie eine Hand auf die große geschwungene Klinke und drückte sie herunter. Obwohl sie im Grunde nicht erwartet hatte, einfach so in das Haus spazieren zu können, spürte sie tiefe Enttäuschung, als die Tür sich nicht öffnen ließ.
Noch einmal beugte sie sich vor und schaute durch das kleine Fenster in der Tür. Diesmal schirmte sie
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