Mitternachtslust
ihr Gesicht nach beiden Seiten mit den Händen ab, um nicht von der hellen Mittagssonne geblendet zu werden, die sich in der getönten Scheibe spiegelte.
Natürlich spielte ihre Fantasie ihr einen Streich, vielleicht war es auch der diffuse Lichteinfall durch das staubige Fenster, das über der Tür in die Mauer eingelassen war – dieses Mal meinte sie für einen Moment, in einen voll möblierten, offensichtlich bewohnten Raum zu schauen. Der Schirmständer stand neu und glänzend poliert neben der Treppe und bot einem Sammelsurium von fünf oder sechs verschiedenen Schirmen eine Heimstatt. Auf den nach oben führenden Stufen lag ein dunkelroter Läufer, an den Garderobenhaken hingen Mäntel und Jacken. Die ganze Szenerie war in das warme Licht eines großen von der Decke hängenden Leuchters getaucht, während am entfernten Ende der Halle ein Kaminfeuer flackerte, das seinen Schein auf einen Teppich mit orientalischem Muster warf. Vor dem Feuer standen mit den Rückenlehnen zur Tür zwei schwere Sessel, als warteten sie nur darauf, dass sich jemand darin niederließ.
Melissa blinzelte verwirrt, als sie rechts neben dem Feuer eine dunkelbraune Dogge zu erkennen meinte, die kurz den Kopf hob, zu ihr herübersah und dann weiterschlief.
Erschrocken trat sie einen Schritt zurück, blickte lange in die grünen Baumwipfel neben dem Haus hinauf und wagte dann erneut einen Blick durch das kleine Türfenster. Nun schaute sie offensichtlich genauer hin, denn jetzt gab es weder ein Kaminfeuer noch einen Hund oder einen kostbaren Teppich auf dem Boden. Nur die kahlen Fliesen, und statt eines roten Läufers erkannte sie die ausgetretenen Holzstufen.
Mit pochendem Herzen lief sie die Treppe hinunter und an der türmchenbewehrten Hausecke vorbei zur Rückseite des Gebäudes. Vielleicht gab es doch eine Möglichkeit, in das Haus zu gelangen – eine vergessene Hintertür etwa oder ein offen stehendes Fenster.
Als sie den riesigen Garten sah, der sich an der Rückseite des Hauses über ein weitläufiges, leicht abfallendes Gelände erstreckte, blieb sie überwältigt stehen. Diese üppig begrünte Fläche konnte man kaum noch als Garten bezeichnen. Es war ein Park, wie man ihn heutzutage außerhalb von öffentlichen Grünanlagen nur noch selten sah.
Die Tatsache, dass dieser Park, ähnlich wie das Haus, vernachlässigt war, trug eher zu seinem Reiz bei. Hohe Büsche wuchsen ineinander und bildeten dichte Wände und geheimnisvolle Tunnel. Die Wipfel einiger großer Bäume hatten sich über dem breiten Mittelweg fest ineinander verschlungen, so dass man dort wohl auch bei strömendem Regen trockenen Fußes spazieren gehen konnte. Auf zahlreichen Beeten wuchsen neben den verschiedensten Blumen Löwenzahn, Gänseblümchen und kräftige Disteln mit glänzenden stachelbewehrten Blättern und trugen zu dem Bild von ungebändigter Natur bei, das Melissa für einen Moment den Atem verschlug.
Nachdem sie festgestellt hatte, dass auch an der Rückseite des Hauses alle Fenster und Türen fest verschlossen waren, wanderte sie unter dem dichten Blätterdach der alten Eichen und Buchen langsam in das überbordende Grün des riesigen Gartens.
Sie hatte das merkwürdige Gefühl, in eine verzauberte Welt einzutauchen, die fernab der gepflegten Einfamilienhäuser lag, welche in der Nachbarschaft standen.
Jedes Mal, wenn der Weg eine kleine Biegung machte oder sie in einen der Seitenwege einbog, bot sich ihr ein völlig neuer Anblick. Einmal war es eine kleine von Efeu überwucherte Gartenlaube, ein andermal eine winzige Holzbrücke, die über einen künstlich angelegten und mittlerweile ausgetrockneten Bachlauf führte. Dann wieder gab es nur wuchernde Büsche, wilde Blumen und ungemähtes Gras.
Es fiel Melissa nicht leicht, Ordnung in ihre Gedanken zu bringen. Sie atmete tief durch und bückte sich nach einem Gänseblümchen, das direkt neben dem Weg blühte. Als Erstes musste sie aufhören, sich hier wie zu Hause zu fühlen, auch wenn sie keinen größeren Wunsch hatte, als hier und nirgendwo anders in Hamburg zu leben. Obwohl das Anwesen offenkundig unbewohnt war, wusste sie nicht einmal, ob es überhaupt zu vermieten oder zu verkaufen war.
Sie drehte sich um und schaute zurück zum Haus. Von ihrem Standort unter den hohen Bäumen aus konnte sie nur die spitz zulaufenden Türmchen und das Dach sehen, das in der Sonne in einem warmen Dunkelrot leuchtete.
Nachdem sie tief durchgeatmet hatte, setzte sie langsam ihren Weg in die Tiefen des
Weitere Kostenlose Bücher