Mitternachtslust
Vorderseite geschlossen hatte, stellte sie fest, dass das Kleid saß, als wäre es für sie geschneidert worden.
Die Frau, die Melissa aus dem Spiegel entgegensah, wirkte fremd und gleichzeitig vertraut, wie eine Mischung aus Gegenwart, Vergangenheit und einer Zukunft, die in beidem verborgen war.
Sie drehte sich vor dem Spiegel hin und her und genoss das seidige Gefühl, mit dem der Stoff locker gegen ihre nackten Beine schwang.
Als das Telefon seinen trillernden Lockruf ausstieß, zuckte sie zusammen. Dann lief sie inmitten eines Meers aus roter raschelnder Seide zum Tischchen neben dem Bett, um den Anruf entgegenzunehmen.
Auf dem Weg zum Telefon kam Melissa an der geschlossenen Tür zum Flur vorbei und meinte dahinter ein leises Geräusch zu hören, als würde jemand mit den Fingernägeln am Türrahmen schaben.
Sie hielt inne und lauschte, als jedoch alles still blieb, ging sie entschlossen weiter. Das Kleid raschelte bei jeder Bewegung so laut, dass sie sich das Geräusch wahrscheinlich eingebildet hatte.
Als sie die Hand nach dem Telefon ausstreckte, erstarrte sie mitten in der Bewegung, denn diesmal war sie sicher, dass es nicht ihre Fantasie war, die ihr einen Streich gespielt hatte: Das Klopfen war laut und deutlich gewesen.
Sie fuhr herum und starrte die Tür an, hinter der es jetzt wieder ruhig war. Auch das Telefon hatte aufgehört, zu läuten.
»Annabelle?« Das Flüstern schien aus dem Nichts zu kommen. Es drang nicht durch die geschlossene Tür und kam auch aus keiner bestimmten Ecke des Zimmers. Es war ein sanftes Vibrieren in der Luft.
»Nein«, stieß sie atemlos hervor, bemüht, die Panik, die in ihrer Brust lauerte, unter Kontrolle zu halten.
»Ich bin nicht Annabelle. Es ist vielleicht Annabelles Kleid, vielleicht sehe ich auch ein bisschen aus wie sie, ABER ICH BIN ES NICHT!«
Die letzten Worte kamen zusammen mit einem Schluchzen aus ihrem Mund. Sie hatte geglaubt, keine Angst mehr zu haben, aber mit der Dämmerung war auch die Furcht zurückgekehrt.
Als das Telefon wieder zu klingeln begann, stieß sie einen erschrockenen Schrei aus, bevor sie hastig nach dem Hörer griff und ihren Namen mehr keuchte als sagte.
»Bist du es, Melissa? Du klingst anders als sonst. Geht es dir nicht gut?« Alexanders besorgte Stimme war klar und warm in ihrem Ohr.
»Ich weiß nicht«, piepste sie und schämte sich für ihre Schwäche. »Da war ein Geräusch an der Tür – ein Klopfen.«
»Soll ich zu dir kommen, Melissa?«
Sie kämpfte mit sich, während sie mit dem Telefon in der Hand unverwandt die geschlossene Tür anstarrte. »Nein. Du wirst wahrscheinlich ohnehin niemanden sehen.«
Einen Moment schwieg er irritiert. »Du meinst also, du hast dir das Geräusch eingebildet?«, fragte er schließlich.
»Nicht direkt. Oder vielleicht doch.« Vor lauter Anstrengung begannen Melissas Augen, zu brennen.
»Wo bist du gerade?«, erkundigte Alexander sich ruhig.
»In meinem Schlafzimmer.«
»Kannst du mit dem Telefon zur Tür gehen?«
»Ja, es ist ein schnurloses Gerät.«
»Dann geh jetzt zur Tür, mach sie auf, und erzähl mir, was du siehst!« Seine Stimme duldete keinen Widerspruch.
»Nein«, widersprach Melissa dennoch, »ich habe Angst, es könnte etwas … Übersinnliches sein.«
»Ein Geist würde sich ohnehin nicht an einer Tür stören«, erklärte er ihr sanft.
»Ich weiß.« Aber wo stand geschrieben, dass Geister nicht an Türen klopften, so wie sie es zu ihren Lebzeiten getan hatten?
»Sieh einfach nach. Vielleicht ist dein Mann zurückgekommen.«
Richard hätte sie nicht Annabelle genannt. Er hätte auch nicht angeklopft, sondern wäre einfach hereingekommen.
Melissas Hand hatte sich so fest um den Hörer gekrampft, dass ihre Finger schmerzten. Sie machte einen Schritt vorwärts, blieb aber sofort wieder stehen.
»Geh zur Tür, und mach sie auf!« Alexanders Stimme klang beschwörend.
»Ich will gar nicht wissen, was da draußen ist«, erklärte sie trotzig mehr sich selbst als ihm.
»Aber ich will es wissen.«
Machte er sich über sie lustig? Natürlich glaubte er ihr kein Wort von ihren Geistergeschichten.
Mit drei großen Schritten war Melissa an der Tür und riss sie auf. Es dauerte ein oder zwei Sekunden, bis ihre Augen sich an das schummrige Licht im Flur gewöhnt hatten. In diesem kurzen Moment meinte sie, einen zarten Nebelschleier zu sehen, der sich rasch verflüchtigte.
»Julius?«, flüsterte sie, weil sie sich plötzlich an den Namen erinnerte, der auf dem
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