Mitternachtslust
entschlossenen Schritten auf die Tür zu. Wer oder was auch immer sie dort drinnen erwartete, sie war sich sicher, dass es ihr nichts Böses wollte.
Auf der Schwelle stehend, tastete sie nach dem Schalter für die Deckenbeleuchtung, die sofort aufflammte. Nachdem neulich in der Nacht die Lampen in ihrem Schlafzimmer den Dienst versagt hatten, hatte sie am Morgen darauf einen Elektriker beauftragt, sämtliche Leitungen zu überprüfen und alle Sicherungen auszutauschen, und seither auch keine Probleme mehr mit der Beleuchtung im Haus gehabt.
Nachdem sie sich prüfend in der alten Küche umgeschaut und nichts Auffälliges entdeckt hatte, zog sie die Tür zum Garten hinter sich ins Schloss, drehte den Schlüssel zweimal um und zog ihn ab. Als sie den Raum in Richtung Halle durchquerte, spürte sie durch die dünnen Sohlen ihrer Turnschuhe den abgetretenen, unebenen Steinfußboden. Er war hart und sehr real.
Mit einem Ruck öffnete sie die Tür zu Halle.
Es erstaunte sie nicht einmal, dass im Kamin ein helles Feuer brannte. Die Flammen warfen ein goldenes zuckendes Licht auf den roten Teppich und die beiden Sessel.
Als Melissa langsam näher trat, hörte sie neben dem Knistern der Flammen und dem Knacken der Holzscheite ein leises gleichmäßiges Klopfen. Sie blieb stehen, lauschte, machte mit angehaltenem Atem noch einen Schritt, lauschte wieder.
Poch, poch, poch.
Ihr Blick schweifte über den Kaminsims, über die Rückenlehnen der Sessel – dann sah sie ihn endlich: Er lag auf einer Ecke des Teppichs, an einer Stelle, die der Schein des Feuers nicht erreichte. Den großen Kopf mit den glänzenden dunklen Augen und den erstaunlich kleinen Ohren hatte er gehoben, um sie beim Näherkommen beobachten zu können. Sein Stummelschwanz schlug in gleichmäßigem Rhythmus auf die Bodenfliesen.
»Bonzo«, hörte Melissa sich flüstern.
Der Hund öffnete leicht das Maul und schien sie freundlich anzugrinsen. Sie stand steif da, unfähig, sich zu rühren.
Erst als sie das Knirschen des Leders wahrnahm, mit dem jemand sich in einem der Sessel bewegte, zuckte sie zusammen und wandte ihren Kopf.
»Komm her, Bonzo!« Aus den Tiefen der Polster reckte sich ein Arm in einem weißen Ärmel.
Der Hund stand auf und schmiegte sich seitlich an den Sessel, sodass sich die Hand, die kräftig und wohlgeformt aus der weißen Manschette ragte, auf seinen Kopf legen konnte.
Wie von einem starken Magneten angezogen, ging Melissa einen weiteren Schritt nach vorn. Dann noch einen. Sie wollte, sie musste das Gesicht des Mannes im Sessel sehen, obwohl sie es bereits zu kennen meinte.
Als er das Geräusch ihrer Schritte auf den Fliesen hörte, zog er seine Hand zurück. »Bist du das, Annabelle?«
Wieder stand Melissa wie angewurzelt da und starrte die Sessellehne an. Der Hund hatte sich auf seine kräftigen Hinterläufe gesetzt und ließ sie nicht aus den Augen.
»Warum setzt du dich nicht zu mir, Anna?« Das Leder knirschte noch heftiger als zuvor, dann tauchte ein dunkler Schopf über der Lehne auf. Das lockige Haar fiel tief in die weiße Stirn, die Augen blitzten unter breiten Brauen, die gerade Nase war ein wenig zu lang, das Kinn genau in der Mitte von einer Kerbe geteilt.
Melissas Lippen bewegten sich tonlos, während sie einen weiteren Schritt auf den Kamin zu machte.
Das laute Klirren, mit dem der Schlüssel, der unvermittelt ihren Fingern entglitten war, auf den Boden fiel, ließ sie heftig zusammenzucken.
Automatisch bückte sie sich. Als sie sich wieder aufrichtete, war es bis auf das Licht, das aus der Küche auf die schwarz-weißen Fliesen fiel, in der Halle dunkel. Der Kamin war kalt und leer.
Mit einer müden Bewegung schob Melissa den Schlüssel in ihre Hosentasche. Während sie langsam die Treppe hinaufstieg, wunderte sie sich, dass sie nicht eine einzige Sekunde so etwas wie Angst verspürt hatte.
»Ist das nicht wunderhübsch?« Mit strahlendem Gesicht hielt Gerda Gruber ein langes rotes Ballkleid in die Höhe.
Melissa, die in einem Karton mit verschiedenen Gegenständen aus Kupfer und Messing gewühlt hatte, richtete sich auf und rieb sich den schmerzenden Rücken.
Sie hatte Frau Gruber, ihre Zugehfrau, gebeten, mit ihr gemeinsam in den verschiedenen Abstellkammern nach Kleidern für das Kostümfest zu suchen.
Vorsichtig strich Melissa mit ihren Fingerspitzen über den glatten Stoff der prunkvollen Abendrobe, die Frau Gruber ihr hinhielt. Das kräftige Rot schien unter der Zeit in dem Schrankkoffer nicht
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