Mitternachtslust
gelitten zu haben. Selbst im Licht der schwachen Glühbirne leuchtete es mit überwältigender Lebendigkeit.
»Das dürfte Ihnen sogar passen. Halten Sie es sich mal vor!«
Plötzlich wurde Melissa von einer seltsamen Scheu ergriffen. Nur zögernd nahm sie das Kleid entgegen und hielt es sich vor den Körper.
»Das sieht zu Ihren dunklen Haaren ganz wunderbar aus – wie für Sie gemacht. Am besten probieren Sie es heute Abend in Ruhe an, und falls es nicht passt, können wir es bis Samstag noch ändern. Mal sehen, ob noch mehr Ballkleider hier drin sind.« Mit einem zufriedenen Ächzen wandte Frau Gruber sich wieder dem geöffneten Schrankkoffer zu.
»Vor allem brauchen wir noch ein Kostüm für meinen Mann«, fiel Melissa ein.
»Hier gibt es eine Menge von diesen komischen dunklen Anzügen, die die Männer damals getragen haben.« An den Männersachen schien Frau Gruber kein besonderes Interesse zu haben. Sie schob die entsprechenden Bügel achtlos auf einer Seite der im Koffer montierten Kleiderstange zusammen und griff nach einem langen elfenbeinfarbenen Kleid mit zahlreichen Rüschen auf dem weiten Rock und einem eng geschnittenen Oberteil.
»Das könnte Ihnen auch passen.«
»Ich glaube, das rote gefällt mir besser. Aber ich kann ja heute Abend beide einmal anprobieren.« Melissa nahm auch die helle Robe in Empfang.
»Das ist alles, was sich in diesem Koffer an passenden Frauenkleidern befindet«, stellte Frau Gruber fest. »Es gibt hier noch ein paar lange dunkle Röcke und einige Blusen. Das war wohl die Alltagskleidung. Aber Sie brauchen ja ein Ausgehkleid. Sollen wir noch weitersuchen? Es gibt sicher noch mehr Koffer und Kisten mit Kleidern.« Mit Abenteurermiene sah sie sich in der vollgestopften Abstellkammer um.
»Im Augenblick reicht das. Die Anzüge schaue ich mir später an.« Melissa spürte plötzlich eine seltsame Scheu, noch weiter in der Vergangenheit herumzukramen.
Sie zögerte. »Es wäre allerdings nett von Ihnen, Frau Gruber … Ich habe neulich schon ein wenig unten in der kleinen Abstellkammer neben der alten Küche gesucht und dabei zwei Bilder entdeckt, die ich vielleicht im Haus aufhängen möchte. Wenn Sie mir helfen würden, sie in einen hellen Raum zu tragen, damit ich sie mir genauer anschauen kann …«
»Natürlich, kommen Sie!« Noch bevor Melissa den Satz beenden konnte, hatte die tatkräftige Frau sich schon im wörtlichen wie im übertragenen Sinne die Ärmel hochgekrempelt und eilte in Richtung Treppe.
Als Melissa die unteren Stufen erreichte, war Frau Gruber bereits in der kleinen Kammer verschwunden.
»Das ist ja unglaublich!«, hörte Melissa sie im nächsten Moment ausrufen. Dann tauchte sie auch schon in der Tür auf und lehnte das Porträt der jungen Frau im roten Kleid genau an der Stelle gegen die Wand, wo das Licht, das durch das Fenster über der Haustür in die Halle fiel, einen hellen Kreis zeichnete.
»Was ist denn?«, erkundigte Melissa sich vorsichtig.
»Haben Sie das denn nicht bemerkt? Es ist unglaublich! Sie sieht genau aus wie Sie, Frau Sander!«
»Aber nein, das bilden Sie sich nur ein!«, protestierte Melissa, wagte aber nicht, einen näheren Blick auf das Porträt zu werfen.
»Das könnten Sie sein – oder zumindest Ihre Schwester. Oder vielleicht Ihre Ururgroßmutter, wenn man bedenkt, dass das Bild wahrscheinlich ziemlich alt ist. Halten Sie sich doch mal die Haare hoch.«
»Ich weiß wirklich nicht …« Hilflos wurschtelte Melissa mit ihrem Haar herum, das ihr an diesem Nachmittag lose auf die Schultern fiel.
»Nicht so! Wie eine Hochfrisur, damit es so aussieht wie bei der Frau auf dem Bild«, kommandierte Gerda Gruber. Mit einem einzigen geschickten Griff bändigte sie die rotbraunen Haarfluten auf Melissas Hinterkopf, ließ aber einige Strähnen seitlich an den Schläfen herabhängen.
»Nun sehen Sie mal in den Spiegel, und dann gucken Sie sich das Bild an!«
Nur zögernd betrachtete Melissa ihr Spiegelbild, das ihr außer der etwas wirren Frisur nichts Neues zeigte. Anschließend richtete sie ihren Blick auf das Porträt, das nicht weit vom Garderobenspiegel entfernt stand.
»Und?«, drängte Frau Gruber.
»Ich finde eigentlich wirklich nicht …« Melissa räusperte sich.
»Das ist Ansichtssache«, fuhr sie entschlossen fort. »Sie hat die gleiche Haar- und Augenfarbe wie ich. Aber es gibt viele dunkelhaarige Frauen.«
»Nein, nein, es ist nicht nur die Haarfarbe!« Gerda Gruber gehörte nicht zu den Menschen, die sich
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