Mitternachtslust
der äußerst schlecht gelaunt drei Stunden vor Beginn der Einweihungsparty aus Frankfurt zurückgekehrt war, betrachtete mit finsterer Miene sein Spiegelbild. Der strenge dunkle Anzug mit dem langen Gehrock war ihm ein wenig zu groß. Melissa fand, dass er mehr Ähnlichkeit mit einem Bestattungsunternehmer als mit einem Buchhalter hatte, hütete sich aber, ihm das zu sagen.
»Du wolltest doch ein Originalkostüm haben. Das hier wurde vor hundertfünfzig Jahren in diesem Haus getragen«, erklärte sie ihm stattdessen.
»Das macht den Anzug auch nicht bequemer. Dein Kleid ist viel luftiger.« Er warf ihr einen missgünstigen Blick zu. »Ist das auch ein Original?«
»Natürlich.« Heiter zupfte Melissa den Ausschnitt des roten Ballkleids zurecht. »Wenn du willst, können wir ja tauschen: du das Kleid, ich den Anzug.« Sie kicherte vor sich hin und wunderte sich ein bisschen, dass sie sich von Richard nicht wie üblich die Laune verderben ließ.
»Sei nicht albern!« Ihre Heiterkeit schien ihren Ehemann nicht gerade aufzumuntern.
»Wo kommt das Vieh her?« Als die Tür von außen aufgestoßen wurde und Bonzos brauner Kopf sich ins Zimmer schob, fuhr Richard herum, als sei er unvermittelt von einem Floh gebissen worden.
Natürlich war Melissa klar gewesen, dass Richard den Hund nicht begeistert aufnehmen würde. Dennoch hatte sie es am Nachmittag aufgegeben, das anhängliche Tier immer wieder zum Gärtnerhaus zurückzubringen. Als Kind hatte sie fast fünfzehn Jahre lang einen Hund besessen und kannte sich gut genug mit Tieren aus, um zu wissen, dass gegen die Ausdauer eines Hundes, der sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, nur noch mehr Ausdauer und viel Zeit halfen – und zumindest Zeit hatte sie heute nicht.
Sie atmete tief durch und tätschelte den breiten Hundekopf, der sich wie üblich sofort an ihr Bein schmiegte. »Das ist Bonzo. Er ist plötzlich hier aufgetaucht. Wir … Ich habe das Tierheim und die Polizei angerufen, aber niemand scheint ihn zu vermissen. Irgendwie bildet er sich ein, hierher zu gehören.«
»Seit wann entscheiden Hunde selbst, wo sie leben?« Richard schnaubte verächtlich durch die Nase. »So ein Vieh macht nur Arbeit und Dreck und kostet Zeit und Geld. Warum hast du ihn nicht gleich ins Tierheim gebracht?«
»Weil ich finde, dass in so ein großes Haus eigentlich ein Hund gehört. Immerhin bin ich oft allein hier. Ich würde mich sicherer fühlen.«
»Ich wette, der würde sich bei Gefahr als Erster verkriechen!« Richard zog sein ungnädigstes Gesicht.
»Ich sperre ihn während der Party ein«, versprach Melissa hastig.
Die Haustürglocke schlug an. Richard warf einen entsetzten Blick auf die Uhr. »Die ersten Gäste! Ist unten überhaupt alles fertig?«
»Natürlich. Das Büfett ist schon seit einer halben Stunde bereit, die Musiker sind da, wir sind angezogen – es gibt keinerlei Probleme«, beruhigte Melissa ihn. »Vielleicht ist es Susanne. Sie wollte ein bisschen früher kommen. Und sie bringt ihren neuen Freund mit. Die beiden haben vor, zu heiraten.«
»Der Ärmste!« stellte Richard giftig fest. »Er weiß sicher nicht, worauf er sich einlässt. Musstest du Susanne unbedingt einladen?«
»Ja, musste ich. Sie ist meine beste Freundin.« Mit Bonzo auf den Fersen rauschte Melissa an ihm vorbei aus dem Zimmer.
Vom Treppenabsatz aus hörte sie Stimmen. Die Frau vom Partyservice, die trotz ihres reifen Alters im vor Pailletten schillernden Supermini mit Ausschnitt bis zum Bauchnabel erschienen war – einem Outfit, das weder zum Thema des Festes noch zu ihren kräftigen Beinen passte –, hatte die Begrüßung der ersten Gäste übernommen.
Auf dem letzten Treppenabsatz holte Richard Melissa ein. Er spähte über das Geländer, murmelte: »Du lieber Himmel – Doktor Schreibmüller und Gattin!«, und eilte die restlichen Stufen hinunter, um das Paar zu empfangen.
Melissa sperrte Bonzo rasch in der alten Küche ein, schüttelte dann Doktor Schreibmüller und seiner mäuschenhaften Frau die Hand und wandte sich den nächsten Gästen zu, die ebenfalls überpünktlich eingetroffen waren.
Als Richard die ersten Komplimente für sein originalgetreues Kostüm einheimste, wölbte er so stolz die Brust vor, als hätte er den Anzug höchstpersönlich in mühsamer Handarbeit genäht.
»Was für eine wunderbare Idee, einen Maskenball zu veranstalten!«, zwitscherte eine bläulich getönte Fünfzigerin mit schwerem grünem Lidschatten, der sich bereits in den Falten um ihre
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