Mitternachtslust
kennt sie niemanden hier, und ich muss mich natürlich auch bei den anderen Gästen sehen lassen.«
»Kein Problem. Darf ich mit ihr flirten?« Er schaute Melissa aufmerksam an.
»Ich bitte darum!« Sie bemühte sich um einen gleichgültigen Gesichtsausdruck und hoffte inständig, dass er ihr gelang.
Als Alexander sich abwandte, um seinem Auftrag nachzukommen, legte sie ihm eine Hand auf den Oberarm. »Noch etwas …«
»Ja?« Sein Gesicht war so dicht vor ihrem, dass sie seinen Atem spürte und den ihm eigenen Duft wahrnahm, der ihr schon viel zu vertraut war. Unauffällig wich sie ein wenig zurück.
»Ich sollte es dir wohl besser sagen. Natascha arbeitet als Stripteasetänzerin. Es ist möglich, dass unter den Gästen Männer sind, die schon einmal in der Bar waren, wo sie auftritt. Sie meint sogar, einen der Barbesucher erkannt zu haben. Es wäre gut, wenn du sie ein bisschen abschirmst, falls du das Gefühl hast, das Gespräch könnte sich in eine Richtung bewegen, die unangenehm für sie ist.«
»Mach dir keine Gedanken. Es wäre ja noch schöner, wenn solche schmierigen Typen sich erst an den Mädchen aufgeilen und sie später herablassend behandeln!« Mit diesen Worten verschwand er in der Menge.
Erleichtert wandte Melissa sich Richard zu, der ihr vom Büfett her, wo er mit einem Teller in der Hand in der zweiten Reihe den größten Ansturm abwartete, schon seit einigen Minuten geheime Zeichen gab.
»Kümmere dich ein bisschen um Doktor Schreibmüller!«, zischte er ihr zu, als sie neben ihm stand. »Und natürlich um Herrn Lang. Du erinnerst dich hoffentlich daran, dass er unser Aufsichtsratsvorsitzender ist.«
Sie nickte gehorsam, obwohl sie nicht die geringste Ahnung hatte, wie Herr Lang überhaupt aussah.
»Wer war der Mann, mit dem du dich eben so lange unterhalten hast? Der in der wilden Kostümierung?«, erkundigte Richard sich misstrauisch, während er, nun endlich an der Reihe, nach einem Stück Schinken im Blätterteig angelte.
»Wen meinst du?« Mit gespieltem Erstaunen riss Melissa die Augen auf.
»Den Piraten mit dem komischen Bart.«
»Wahrscheinlich einer deiner neuen Hamburger Geschäftspartner.« Sie nahm sich lediglich ein wenig Waldorfsalat und ein paar Käsehäppchen. Außerdem griff sie nach einem Glas Wein, das ein hübscher blond gelockter Kellner direkt neben dem Büfett anbot.
»Und trink bloß nicht zu viel!«, befahl Richard ihr prompt.
Trotzig hob Melissa ihr Glas und trank es mit wenigen großen Schlucken bis zur Hälfte aus. »Der Wein ist wirklich gut«, stellte sie fest und suchte das Weite.
In der Halle stieß sie auf Susanne und ihren Philosophieprofessor, der zu Melissas Überraschung tatsächlich genau wie das aussah, was er war: Einen halben Kopf kleiner als Susanne, mit leicht vorstehendem Bäuchlein, beginnender Glatze und klug funkelnden Augen hinter einer runden Brille, gab er das perfekte Bild eines Intellektuellen ab. Nichtsdestoweniger sah Susanne ihn an, als besäße er das Äußere eines griechischen Gottes, während er etwas wortkarg, aber mit einem sympathischen Lächeln Melissas Begrüßung erwiderte. Offensichtlich verfügte dieser Mann über Qualitäten, die auf den ersten Blick verborgen blieben.
»Wann soll der Ball eröffnet werden?« Die Frau vom Partyservice tauchte so plötzlich neben Melissa auf, dass diese beinahe ihren Teller hätte fallen lassen.
»Vorerst sind die Leute alle mit dem Essen beschäftigt.« Das Gemurmel der vielen Gäste klang gedämpft. Offensichtlich hatten alle den Mund voll.
»Es ist wichtig, dass zwischendurch kein Leerlauf entsteht«, belehrte die Partyexpertin sie eifrig.
»Fragen Sie am besten meinen Mann, wann der Ball eröffnet werden soll«, schlug Melissa listig vor.
»Der hat mich zu Ihnen geschickt«, konterte die Frau im Glitzermini.
»Dann sagen wir doch einfach, in zwanzig Minuten.« Zum Zeichen, dass die Diskussion damit für sie beendet war, schob Melissa sich ein Käsehäppchen in den Mund.
Nachdem das funkelnde Paillettenkleid in Richtung Büfett verschwunden war, beschloss Melissa, sich ein weiteres Glas Wein zu holen. Susanne und ihr Philosoph waren so sehr miteinander beschäftigt, dass sie sie nicht vermissen würden.
Während sie sich in ihrem raschelnden roten Ballkleid durch die plaudernden, essenden Menschen schob, hatte sie plötzlich das Gefühl, als ginge ein Ruck durch ihren Körper und das Bild vor ihren Augen würde sich unmerklich verändern. Immer noch war die Halle mit
Weitere Kostenlose Bücher