Mitternachtsmorde
Funken, und seine Mundwinkel zuckten verräterisch, bevor er sich wieder unter Kontrolle hatte und seine Lippen zu einem dünnen Strich zusammenpresste.
»Ein freundlicheres Wort für ›Inzucht‹. Sie haben lediglich zwei genetische Quellen? Es ist ein Wunder, dass Sie überhaupt funktionieren.«
»Ich funktioniere in jeder Hinsicht«, versicherte er grinsend.
Sie stöhnte auf und schloss entnervt die Augen. Jetzt machte er auch noch sexuelle Anspielungen … glaubte sie wenigstens. Die Sprachunterschiede waren gerade so groß, dass sie nicht sicher sein konnte. Falls ja, dann waren die Männer wohl in allen Jahrhunderten gleich.
»Schon gut, schon gut.« Völlig unerwartet schien er zu kapitulieren. Nikitas Augen flogen wieder auf, und sie sah, wie er die Hand in die Jeanstasche schob und ein Messer herauszog, das, als er es aufklappte, mit einer gemein aussehenden, zehn Zentimeter langen Klinge aufwartete. Bedächtig zog er die Schneide über den linken Daumenballen, aus dem sofort rotes Blut zu quellen begann, das wenig später von seiner Hand tropfte.
»Öffnen Sie das Röhrchen«, befahl sie ihm. »Streichen Sie etwas davon auf den Schnitt. Also, wischen Sie erst das Blut ab und streichen Sie es dann auf den Schnitt.«
»Das sagen Sie mir jetzt«, kommentierte er, griff nach einer Papierserviette, die von ihrem Mittagessen übrig geblieben war, und drückte sie auf seine blutende Daumenwurzel. »Wenn Sie mich verscheißern, bekomme ich mächtig schlechte Laune«, warnte er sie.
Sie ging gar nicht darauf ein, sondern beobachtete schweigend, wie er die Reskin-Ampulle in die linke Hand nahm, den Deckel abschraubte und eine kleine Bürste herauszog, auf der eine durchsichtige Flüssigkeit glänzte. »Sie brauchen nicht viel davon; eine hauchdünne Schicht reicht.«
»Das will ich hoffen.« Er zog die Serviette wieder von der Wunde und tupfte das Reskin auf den Schnitt. »Autsch!«, quietschte er überrascht. »Scheiße! Sie haben nichts davon gesagt, dass dieser Mist brennt!«
Nikita lachte; sie konnte nicht anders. »Sehen Sie sich Ihren Daumen an.«
Er sah auf seinen Daumen, und seine Miene veränderte sich auf eine Weise, die sie kaum beschreiben konnte: Es war kein Schock, auch kein Unglaube, eher eine Art Taubheit. Ganz langsam schraubte er die Ampulle wieder zu und legte sie auf den Schreibtisch, um danach die übrig gebliebene Flüssigkeit von seinem Daumen zu tupfen.
Er blieb so lange stumm, dass sie vor Anspannung am liebsten losgeschrien hätte, aber sie hielt sich eisern unter Kontrolle und wartete ab, bis er entschieden hatte, was er jetzt tun würde. Vielleicht würde er einfach verleugnen, was er mit eigenen Augen beobachtet hatte. Manchmal reagierten die Menschen unlogisch; auch darauf musste sie vorbereitet sein.
Schließlich stand er hinter seinem Schreibtisch auf, kam auf sie zu und ging neben ihr in die Hocke, um die Handschellen zu lösen, mit denen er sie am Fußgelenk an den Stuhl gekettet hatte. Dann nahm er ihre Hände in seine Hand und schloss die Handschellen auf, mit denen ihre Gelenke gefesselt waren.
Nachdem er beide Handschellen auf den Schreibtisch fallen lassen hatte, setzte er sich wieder und sagte: »Okay, reden Sie. Erzählen Sie mir alles.«
»Alles? Wie viel Zeit haben Sie denn?«
»Fangen Sie einfach an. Ich sage Ihnen, wann ich genug gehört habe.«
8
Jetzt, wo er ihr endlich zuhörte, wusste sie nicht mehr, wo sie anfangen sollte. Sie hatte ihre Handgelenke massiert, hörte damit auf und breitete die Hände aus. »Was möchten Sie denn wissen? Fragen Sie mich.«
»Sie haben erwähnt, dass Sie einem Mörder auf der Spur sind. Ob ich diesen Zeitreisen-Mist glaube oder nicht, sei dahingestellt, aber ich versuche ebenfalls, einen Mörder zu fassen, und bin darum ganz Ohr.«
Sie schwieg kurz und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. »Vielleicht werden wir dafür eine Skizze brauchen.«
Er griff nach einem Notizbuch mit Spiralbindung und schob es über den Tisch. »Zeichnen Sie eine.«
Zeichnen Sie eine, sagte er. Sie strich mit dem Finger über das linierte Blatt. Wenn der Mann gewusst hätte, wie selten sie wirklich mit einem Stift auf ein Papier geschrieben hatte, hätte er wahrscheinlich laut gelacht. Nur aufgrund ihres Studiums war sie mit beidem vertraut. Echtes Papier war unbezahlbar und ausschließlich dafür da, entscheidende Informationen zu speichern sowie einen winzigen Anteil von Ermittlern über die Vergangenheit aufzuklären. So vieles hatte die
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