Mitternachtsschatten
die vagen Erinnerungen an seine tote Mutter.
Eher zufällig blätterte er eines Tages in der Zeitschrift „L.A. Life“, zufällig, weil er sich für Südkalifornien oder Geisterhäuser oder Stars und Sternchen eigentlich nicht besonders interessierte. Er überflog die Seiten mit den Skandalen des Jahrhunderts, als plötzlich sein Blick an einem alten Zeitungsfoto hängenblieb. Er starrte in die Augen seiner Mutter.
Damals, in den 60ern, war ein bunter Haufen Hippies wegen unerlaubten Betretens des verlassenen Anwesens Casa de las Sombras verhaftet worden, und seine Mutter war unter ihnen gewesen. Er konnte seinen Vater auf dem Foto nicht erkennen und wusste auch nicht, ob er damals in L.A. war, seine Mutter beherrschte das ganze Bild, jung und leuchtend selbst in Schwarzweiß. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, die Eindringlinge zu bestrafen, und so kamen sie einfach zurück und nisteten sich wieder in dem baufälligen Haus ein. Sie gründeten eine Kommune, womit sie den Verfall des historischen Gebäudes noch beschleunigten und die reichen Nachbarn fast zum Wahnsinn trieben.
So erfuhr er von Jackson Meyer. Es war der erste Name, den er mit der bewegten Vergangenheit seiner Mutter in Verbindung bringen konnte. Schließlich hatte er schon früh gelernt, keine Fragen über seine Familie zu stellen, weil dann sein Vater jedes Mal anfing zu weinen und noch mehr zu trinken, während seine Großtante Esther ihm eine Ohrfeige androhte, falls er nicht den Mund hielte. Sie hatte ganz schön böse und harte Hände für eine alte Frau, und sie starb, bevor er größer wurde und sich wehren oder Antworten auf seine Fragen bekommen konnte.
Nachdem er aber erstmal einen Namen kannte, war es ganz einfach gewesen, den Schuldigen ausfindig zu machen. Jackson Meyer hatte seinen Weg gemacht, war zurück nach Harvard gegangen, hatte seinen Abschluss gemacht und drei Frauen geheiratet. Aus seiner ersten Ehe entstammten drei erwachsene Kinder, von denen eines adoptiert war, aus seiner dritten zwei kleine Kinder. Außerdem kontrollierte er ein milliardenschweres Unternehmen. Er hatte also einiges erreicht. Das Haus, in dem er das Kommunen-Leben ausprobiert hatte, gehörte nun seinen Kindern aus erster Ehe, während er selbst in einem modernen, äußerst luxuriösen Anwesen in Bel Air residierte.
Coltrane wusste, dass das der Mann war, der die Antworten auf seine Fragen kannte, der ihm sagen konnte, was mit seiner Mutter geschehen war. Sein Vater hatte ihm erzählt, dass seine halb irische Mutter das „zweite Gesicht“ hatte, einen Fluch, von dem er sich fragte, ob er ihn geerbt hatte. Denn eines Tages sah er seinen Vater an und wusste, dass er sterben würde. Eine solche Ahnung war an dem Tag wiedergekommen, an dem er sich seinen Weg in Jackson Meyers Büro erschlichen hatte, was in Anbetracht all der Sicherheitsvorkehrungen eine große Leistung war. Coltrane hatte nur ein einziges Mal in die klaren, ruhigen Augen blicken müssen, um zu wissen, dass dieser Mann seine Mutter ermordet hatte.
Natürlich hatte Meyer nicht die geringste Idee, wer er war, davon abgesehen, dass es ihn überhaupt nicht interessierte. Coltrane hatte ein Talent darin, den Menschen das zu geben, was sie gerade brauchten, und ihr Vertrauen zu gewinnen. Es war ein Leichtes für ihn, sich bis in das innerste Heiligtum von Meyer Enterprises und in eine wichtige Position hochzuarbeiten. Der alte Mann war eine unbarmherzige Schlange und davon überzeugt, in Coltrane einen Seelenverwandten gefunden zu haben.
Weniger leicht war es gewesen, sich in Geduld zu üben, sich Zeit zu lassen. Nun war er schon fast ein Jahr hier und hatte das vollständige Vertrauen von Jackson Meyer gewonnen. Zack Coltrane mit dem gefälschten Abschluss und dem charmanten Lächeln und der kalifornischen Lässigkeit war bereit, Jackson Meyer zu vernichten.
Doch zuerst brauchte er alle Antworten. Er würde sich nicht damit begnügen, Meyer finanziell zu ruinieren. Und ihn zu töten würde nicht leicht sein. Coltrane hatte noch nie zuvor getötet, auch wenn er ein paar Mal ganz nahe dran gewesen war, aber in Jackson Meyers Fall würde er es tun, er hasste ihn genug. Allerdings wäre dann alles vorbei. Er wollte jedoch, dass der Mann, der seine Mutter getötet hatte, endlose Qualen litt. Sobald er den Beweis hatte, sollte Meyer erfahren, wer ihn zerstörte, und warum. Seine Firma und seinen Ruf zu ruinieren wären ein Anfang, und daran arbeitete er, seit er in L.A. war.
Seine Familie
Weitere Kostenlose Bücher