Mitternachtsschatten
Jilly die großzügige, geflieste Terrasse betrat, und sie atmete erleichtert auf. Sie würde alleine sein, zumindest ein paar Stunden lang. In dieser Zeit konnte sie noch einmal darüber nachdenken, was geschehen war und wie sie ihrem Bruder am besten helfen konnte.
Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie furchtbaren Hunger hatte. Sie ging direkt in die riesige alte Küche. Sie setzte sich an den langen Holztisch und leerte mit einem gezackten Grapefruit-Löffel von Tiffany’s zwei Becher Joghurt. Danach aß sie von einem schon rissigen, wertvollen Porzellanteller ein Sandwich mit Erdnussbutter. Sie beschloss, am nächsten Tag einkaufen zu gehen, der Kühlschrank war fast leer. Rachel-Ann ernährte sich, wenn sie clean war, fast ausschließlich von Süßigkeiten, und Dean war immerzu auf irgendeine Diät gesetzt. Was die beiden allerdings nicht davon abhielt, über den Inhalt des Kühlschranks herzufallen, wenn sie dazu in Stimmung waren.
Jilly stellte den Teller in das alte Waschbecken und lief über den Gang in den Flügel des Hauses, den ihr Bruder bewohnte. Sie klopfte, bekam aber keine Antwort. Als sie die Tür öffnete, fühlte sie sich wie immer von dem Raum überwältigt. Dean hatte unbedingt die ehemaligen Dienstbotenzimmer beziehen wollen, weil sie eher schmucklos und nicht so kitschig wie der Rest des Hauses waren. Er hatte die Räume nur spärlich und mit modernen Möbeln eingerichtet.
Ihr Bruder lag auf dem Bett. Das einzige Licht, das den Raum erhellte, kam von seinen Computern, er hatte immer mindestens zwei gleichzeitig angeschaltet.
Sie ging leise zu ihm und betrachtete ihn zärtlich. Dean hatte die Klimaanlage wie immer auf sehr kalt eingestellt, aber sie wagte es nicht, die Temperatur zu verändern oder gar seine Computer auszuschalten. Sie breitete nur eine Decke über ihn und wünschte, alles wäre anders, auch wenn sie nicht genau wusste, wie. Dann ließ sie ihn in dem sterilen, eiskalten Raum zurück und tauchte wieder in die warme Dunkelheit der Casa de las Sombras ein. Das Haus der Schatten. Manchmal kam es ihr so vor, als gäbe es in Deans hellem Zimmer die meisten Schatten.
3. KAPITEL
Z acharias Redemption Coltrane war ein Kind der sechziger Jahre, geboren in der Mitte dieses turbulenten Jahrzehnts. Sein Name hatte ihm als Kind zwar jede Menge Spott eingebracht, doch der Name war das geringste Problem in seinem Leben. Mit dreizehneinhalb war er bereits fast einen Meter achtzig groß, hatte alle wichtigen Menschen in seinem Leben verloren und betrat eine Welt, von der er bereits wusste, dass sie grausam und feindlich war. Damals nannte er sich Zack – zumindest dann, wenn er sich überhaupt die Mühe gab, seinen richtigen Namen zu benutzen.
Merkwürdig, wie einige Familiengeschichten ganz geradlinig verliefen und andere wiederum verschlungen und dramatisch. Er kannte die bitteren Erzählungen seiner Großtante Esther und die alkoholumnebelten Erinnerungen seines Vaters, doch sagten die beiden die Wahrheit? Nie sprachen sie davon, wie seine Mutter gestorben war, er wusste nicht einmal ihren richtigen Namen. Er kannte sie als Ananda, und seine eigenen Erinnerungen waren leicht und voll Lachen und dem bittersüßen Duft von Marihuana. Sie hatten in einem Schloss gelebt, in dem es gefährliche Drachen gab.
Aber das war, bevor sie ermordet wurde.
Es fiel ihm schwer, die Bilder von diesem magischen Ort oder der Prinzessin, die seine lachende Mutter war, in sein Gedächtnis zurückrufen. Er konnte sich kaum daran erinnern, wie es gewesen war, bevor er mit seinem betrunkenen Vater und seiner scharfzüngigen Großtante in dem trostlosen kleinen Haus in Indiana gelebt hatte. Und niemand würde ihm jemals die Wahrheit über seine Mutter erzählen.
Großtante Esther starb zuerst, vom Krebs geradezu aufgefressen. Sein Vater folgte kurz darauf, als er sich betrunken bei einem Sturz das Genick brach. Coltrane haute ab, bevor das Jugendamt sich um ihn kümmern konnte. Er wurde zu einem 13-jährigen rebellischen Außenseiter, der durchs Land zog und langsam zum Mann wurde.
Eines Tages beschloss er, Anwalt zu werden. Anwälte machten Geld, Anwälte manipulierten das System, Anwälte waren Abschaum. Das hielt er für die passende Karriere, zumal er es leid war, immerzu nahe am Abgrund zu leben. In New Orleans wurde er schließlich Stellvertretender Bezirksstaatsanwalt. Er verurteilte die Ärmsten der Armen, ohne sich dabei besondere Mühe zu geben, und ließ seine Vergangenheit genauso hinter sich wie
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