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Mitternachtsschatten

Mitternachtsschatten

Titel: Mitternachtsschatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Stuart
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allem Überfluss musste sie auch noch mit Coltrane zu Abend essen. Erstens war sie bisher allen skrupellosen jungen Männern, die ihr Vater beschäftigte, erfolgreich aus dem Weg gegangen. Zweitens missfiel ihr an Coltrane einfach alles, sein Ehrgeiz, seine Aggressivität und sein gutes Aussehen. Er wusste sehr gut, wie attraktiv er war, deswegen fand Dean ihn vermutlich auch so unwiderstehlich. Dean hatte eine Schwäche für blasierte, kluge und hübsche Jungs, vor allem für die, bei denen er keine Chance hatte. Rachel-Ann würde Coltrane nicht weniger verlockend finden. Auf den ersten Blick wirkte er ja auch nicht annähernd so gefährlich wie die Typen, mit denen ihre Schwester sich sonst einließ. Die beiden würden ein hinreißendes Paar abgeben.
    Inzwischen war das Wasser kalt geworden. Jilly sprang aus der Wanne und grinste ihr Spiegelbild an. In diesem verdammten Haus gab es einfach viel zu viele Spiegel. Wo sie auch hinschaute, immerzu erhaschte sie einen Blick auf sich selbst. Sie hatte keine Ahnung, wer all diese Spiegel hatte aufhängen lassen: die zurückgezogen lebende Schauspielerin, die dieses Haus hatte bauen lassen, oder Brenda de Lorillard, die hier gestorben war. Als eine Frau, die nicht sonderlich eitel war, fand sie sie jedenfalls ziemlich störend. Hinzu kam Rachel-Anns Überzeugung, dass es in dem Haus spukte. Manchmal, wenn Jilly in den Spiegel sah, war es so, als sähe sie ganz kurz jemanden, der schon lange tot war.
    Ihr war kalt, doch sie zog lieber einen Pulli über, als das Fenster zu schließen. Sie liebte frische Luft, die Spinnweben und Motten aus dem Gebäude fegte. Seltsamerweise aber verlor sich der Geruch nach frischem Tabak nie, genauso wenig wie der zarte Hauch von Parfüm, das sie vage an ihre Kindheit erinnerte. Vielleicht hatte ihre Großmutter es benutzt, vielleicht war eines Tages eine ganze Flasche heruntergefallen, und der Duft hatte sich in das Holz gefressen. Jilly mochte den Geruch ganz gerne. Er gab ihr das Gefühl, dass ihre Großmutter auf sie aufpasste, obwohl sie sich zu Lebzeiten nicht sonderlich nahe gestanden hatten.
    Die Haustür wurde zugeschlagen. Sie wusste immer sofort, wenn es Rachel-Ann war. Sie brachte eine nervöse Energie mit sich, die die Luft im ganzen Haus auflud wie vor einem Sturm. Jilly lauschte – Gott sei Dank, Rachel-Ann war alleine. Wie die ganzen letzten drei Monate auch schon. Das machte sie zwar unausstehlich, war aber ein Schritt Richtung Genesung.
    Kurz darauf hörte sie, wie etwas zersplitterte und jemand wegrannte. Jilly stürzte in die Halle. Rachel-Ann war schon in der Mitte der Treppe, dünn und zerbrechlich, ihr langes flammend rotes Haar wehte hinter ihr her, als sie die letzten Stufen nach oben rannte; auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck von Panik. Sie lief direkt in Jillys Arme und stieß ein dankbares Schluchzen aus. Sie war so leicht und klein. Jilly schlang ihre kräftigen Arme um sie und fragte: „Was ist denn los, Süße? Bist du gestolpert? Ich habe Lärm gehört.“
    „Ich weiß nicht, was das war. Irgendetwas ist zerbrochen, doch ich konnte nicht sehen, was.“ Rachel-Anns Stimme war leise, aber klar.
    „Das macht doch nichts“, murmelte Jilly beschwichtigend. In diesem Haus gab es sowieso nicht mehr viel Wertvolles, das kaputtgehen konnte. „Was hat dich denn so erschreckt?“
    Rachel-Ann wand sich aus der Umarmung und starrte ihre Schwester einen Augenblick lang verwirrt an. Ihre grünen Augen wirkten riesig, aber nicht so, als hätte sie Drogen genommen. Jilly atmete erleichtert auf.
    „Ich weiß es nicht“, sagte Rachel-Ann schließlich. „Sie haben mich beobachtet, ich habe es gespürt. Sie beobachten mich immerzu. Ich weiß, dass du mir nicht glaubst, aber es gibt sie! Ich fühle es!“
    „Glaubst du wirklich?“ Jilly hatte gelernt, dass es besser war, Rachel-Ann nicht zurechtzuweisen. „Willst du in mein Zimmer kommen und es mir erzählen?“
    „Nein, bloß nicht dort“, sagte sie und lugte ängstlich in das große Schlafzimmer. „Ich weiß nicht, wie du da schlafen kannst, wo du doch weißt, was passiert ist!“
    „Ich glaube nicht an Geister“, antwortete Jilly.
    „Aber ich. Schließlich haben sie mich gerade erst wieder beobachtet.“ Rachel-Anns sonst so ruhige Stimme überschlug sich. Sie hatte in letzter Zeit viel Gewicht verloren, viel zu viel, und sie sah aus wie ein schwacher rothaariger Spatz, verloren und verängstigt.
    „Dann lass uns in dein Zimmer gehen. Ich bleibe bei dir, bis du

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