Mitternachtsschatten
wieder in eine verhängnisvolle Beziehung stürzte und das der erste Schritt in Richtung Drogen und Alkohol war. Rachel-Ann hatte nicht die geringste Lust, darüber zu diskutieren oder die Hintergründe zu erklären. Sie verstand ja selbst nicht genau, was geschehen war.
Sie wusste aber, dass es diesmal anders war als sonst, und sie hielt es gleichermaßen für zu früh und zu spät, um es zu analysieren. Manchmal musste man einfach dem Schicksal vertrauen, so wie jetzt, wo es um ihre und Ricos Zukunft ging. Die Einzelheiten konnten sie auch später noch klären. Im Augenblick jedenfalls fühlte sie sich so lebendig wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Hoffnungsvoll. Stark.
Coltrane war vermutlich zu Hause, es sei denn, Dean hatte ihn irgendwo hingefahren. Ihn wollte sie genauso wenig sehen wie Jilly. Es gefiel ihr nicht, wie er sie ansah, mit diesem sorgenvollen und missbilligenden Blick, der so sehr an den ihrer Schwester erinnerte. Damals, als sie zum ersten Mal von ihm hörte, hatte sie sich eigentlich vorgenommen, mit ihm zu schlafen. Und dann? Dann stand er plötzlich da und benahm sich wie ein strenger älterer Bruder …
Älterer Bruder! Die Worte hallten in ihrem Kopf nach. Vielleicht waren es auch die Stimmen der Geister, man wusste ja nie. Älterer Bruder. Er ist mein Bruder! Und er weiß, wer ich bin.
Sie ließ sich auf das Sofa fallen und starrte auf den Scherbenhaufen. Ihr Bruder. Coltrane. Ihn hatten die Geister gemeint, als sie sie warnten! Nicht Dean mit seinem einfach gestrickten Verstand. Dean liebte sie, aber es war nicht seine Art, ihr zu helfen oder gar etwas gegen Jackson zu unternehmen. Coltrane war es, der sie suchte. Coltrane, ihr verlorener Bruder, der alles schon längst gewusst haben musste.
Rachel-Ann hörte ihre Stimmen, und für einen Augenblick saß sie ganz starr und wartete auf die Geister. Erst dann erkannte sie Jillys Stimme, unerwartet kräftig und fröhlich. Und Coltranes Antwort. Sie zögerte nicht eine Sekunde, sondern sprang auf, raste aus dem Wohnzimmer die Stufen hinauf und in Jillys Zimmer, ohne anzuklopfen. Sie sah Coltrane als Schatten vor dem Fenster stehen, er trug Jeans und sonst nichts. Jilly saß auf dem Bett, in das Laken eingewickelt, und sah aus wie …
Sah aus wie eine Frau, die gerade den besten Sex ihres Lebens gehabt hatte. Wie eine Frau, die liebt. Ihre Schwester und ihr Bruder. Coltrane sah sie mit einem rätselhaften Blick an. Seine grünen Augen ähnelten den ihren so sehr, dass Rachel-Ann nicht begreifen konnte, dass sie es nicht früher erkannt hatte.
„Du bist mein Bruder, stimmt das?“ rief sie.
Jilly schnappte nach Luft. „Was ist das für ein Unsinn, Rachel-Ann? Er ist nicht mit uns verwandt!“
„Nein, Gott sei Dank, sonst hättet ihr beide jetzt ein ziemlich großes Problem“, sagte Rachel-Ann mit kalter Stimme. „Er ist nur mit mir verwandt. Nicht wahr, Coltrane?“
Sie erwartete fast, dass er es abstritt. Er warf Jilly, aus deren Gesicht der glückselige Ausdruck verschwunden war, einen Blick zu.
„Ja“, sagte er dann. „Ich bin dein Bruder.“
22. KAPITEL
J illy saß erstarrt in ihrem großen, geschwungenen Bett und beobachtete die beiden. Wie hatte sie das Offensichtliche nur übersehen können? Sie sahen sich doch so ähnlich!
„Was tust du hier, Rachel-Ann?“ fragte Coltrane. „Ich hoffte, du hättest genug Verstand, um dich von diesem Haus fern zu halten.“
„Ich habe noch nie besonders viel Verstand gehabt“, schoss Rachel-Ann zurück. „Und warum sollte ich nicht zurückkommen? Damit ich es nicht herausfinde und Jilly erzähle? Nun, weißt du was? Ich habe es herausgefunden, und Jilly weiß es jetzt. Um mich geht es ja gar nicht. Aber was tust du hier? Bist du meinetwegen hierhergekommen?“
Coltrane trat vom Fenster weg. Er würdigte Jilly, die wie ein Häuflein Elend auf dem Bett kauerte, keines Blickes. „Ich wusste nicht, dass es dich gibt, bis ich dich das erste Mal gesehen habe“, sagte er tonlos. „Ich bin nach Los Angeles gekommen, um herauszufinden, was mit meiner Mutter geschehen ist. Mit unserer Mutter. Sie ist hier gestorben, vor über dreißig Jahren. Mein Vater hat mir erzählt, dass sie umgebracht wurde.“
„Dein Vater?“ wiederholte Rachel-Ann. „Wir haben nicht denselben Vater?“
„Nein.“
Rachel-Anns Gesicht krampfte sich vor Furcht zusammen, und Jilly hätte sie am liebsten in den Arm genommen, um sie zu trösten und zu beschützen. Aber sie war in ihrem eigenen Schmerz über
Weitere Kostenlose Bücher