Mitternachtsspitzen: Roman (German Edition)
während er sie gebannt betrachtete.
Ihre Blicke trafen sich über Kits Schopf hinweg. Sophronia löste sich aus der Umarmung und schwebte mit einer sinnlichen Anmut auf ihn zu, die ihrem schlichten
blauen Baumwollkleid die Eleganz feinster Seide verlieh. Unmittelbar vor Cain blieb sie stehen und hielt ihm ihre feingliedrige Hand hin.
»Willkommen auf Risen Glory, Sir Boss.«
Im Zug, auf der Rückfahrt in den Norden, benahm Sophronia sich abscheulich. Sie sagte in einem fort »Ja, Sir« und »Nein, Sir« zu Cain, strahlte ihn an und nahm Partei gegen Kit.
»Er hat ja schließlich Recht«, betonte Sophronia, als Kit sie darauf ansprach. »Es wird wirklich Zeit, dass du lernst, dich wie eine wohlerzogene Dame zu benehmen.«
»Ich finde, du solltest so langsam mal erkennen, auf wessen Seite du stehst.«
Sophronia und Kit waren die weltbesten Freundinnen, auch wenn die eine schwarz und die andere weiß war. Was keineswegs bedeutete, dass sie nicht miteinander stritten. Und jene Auseinandersetzung spitzte sich nach ihrer Ankunft in New York zu.
Kaum dass Magnus Sophronia kennen lernte, himmelte er sie an, und selbst die bodenständige Mrs. Simmons schwärmte in den höchsten Tönen von der jungen Frau. Nach drei Tagen hatte Kit es restlos satt. Ihre ohnehin miese Laune sank ins Bodenlose.
»Ich komme mir vor wie eine Vogelscheuche!« Das dunkle Pelzkäppchen saß seltsam windschief auf Kits wild gelockten Haaren. Die ockerfarbene Jacke war zwar von einer sehr guten Qualität, aber in den Schultern zu weit, das unförmige braune Wollkleid schleifte über den Boden. Sie sah aus wie eine alte Jungfer.
Sophronia legte ihre langen Finger an die Hüften. »Was hattest du erwartet? Ich hab dir gleich gesagt, dass die Sachen, die Mrs. Simmons für dich eingekauft hat, viel zu groß sind, aber du wolltest ja nicht auf mich hören.
Das kommt davon, wenn man sich für schlauer hält als die anderen.«
»Nur weil du drei Jahre älter bist und wir in New York sind, musst du dich vor mir nicht so aufspielen.«
Sophronias zarte Nasenlöcher bebten vor Unmut. »Glaub ja nicht, dass ich mich von dir herunterputzen lasse. Ich bin nicht mehr deine Sklavin, Kit Weston. Kapiert? Ich bin nicht dein Eigentum. Ich gehöre niemandem außer meinem Schöpfer!«
Kit mochte Sophronias Gefühle nicht verletzen, auch wenn sie sich gelegentlich wie die Axt im Walde benahm. »Hast du jemals einen Funken Dankbarkeit gezeigt? Ich hab dir Rechnen, Schreiben und Lesen beigebracht, obwohl das streng verboten war. Ich hab dich damals vor Jesse Overturf versteckt, an dem Abend, als er dir an die Wäsche wollte. Und jetzt nimmst du andauernd für diesen Yankee Partei und nicht für mich.«
»Komm du mir nicht mit Dankbarkeit! Ich hab dich jahrelang vor Miss Weston versteckt. Jedes Mal, wenn sie dich eingesperrt hatte, hab ich dich rausgelassen. Hab mich für dich auspeitschen lassen. Von wegen Dankbarkeit. Du bist wie eine Klette. Du hast mich nach Strich und Faden ausgenutzt. Du … du…«
Plötzlich hörten sie Schritte im Gang, und Sophronia brach abrupt ab. Mrs. Simmons betrat den Raum und verkündete, dass Cain unten warte, um Kit in die von ihm ausgesuchte Schule zu fahren.
Als wäre nichts gewesen, fielen die beiden Hitzköpfe einander in die Arme. Schließlich löste sich Kit schweren Herzens von Sophronia, setzte sich den hässlichen, schiffchenförmigen Hut wieder auf und stakste zur Tür. »Pass auf dich auf, ja?«, flüsterte sie.
»Kopf hoch. Und lass dich an dieser komischen Schule nicht unterkriegen«, raunte Sophronia zurück.
»Mach ich schon nicht.«
In Sophronias Augen schimmerten Tränen. »Wir sehen uns bestimmt bald wieder.«
Zweiter Teil
Ein Templeton-Mädchen
Gute Manieren bestehen aus lauter kleinen Opfern.
Ralph Waldo Emerson
5
Die Templeton Academy für junge Damen war ein riesiger, grauer Steinkoloss an der Fifth Avenue. Cains Anwalt, Hamilton Woodward, hatte die Schule wärmstens empfohlen. Obwohl sie Mädchen in Kits Alter für gewöhnlich nicht mehr aufnahm, hatte Elvira Templeton für den Helden vom Missionary Ridge eine Ausnahme gemacht.
Mit gemischten Gefühlen stand Kit auf der Schwelle zu dem ihr zugewiesenen Zimmer im zweiten Stock und taxierte die fünf Mädchen in den marineblauen Kleidern mit weißen Kragen und Manschetten. Diese scharten sich um das einzige Fenster und schauten gebannt nach unten auf die Straße. Nicht lange, und Kit erfuhr auch weshalb.
»Oh Elsbeth, sei ehrlich, hast du
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