Mitternachtsspitzen: Roman (German Edition)
schon jemals einen attraktiveren Mann gesehen?«
Elsbeth seufzte. Sie hatte kurze, braune Locken und ein hübsches, rosiges Gesicht. »Stell dir das nur mal vor. Er war hier in der Academy, und deshalb durften wir alle nicht nach unten gehen. Es ist so ungerecht!« Und dann, kichernd: »Mein Vater behauptet, dass er kein richtiger Gentleman ist.«
Allgemeines Gekicher.
Eine ausnehmend hübsche Blondine, die Kit an Dora Van Ness erinnerte, mischte sich ein. »Madame Riccardi, die Opernsängerin, fiel in Ohnmacht, als er ihr erzählte, dass er nach South Carolina umzieht. Alle reden darüber. Sie ist nämlich seine Geliebte, wisst ihr.«
»Lilith Shelton!« Die Mädchen taten fürchterlich entsetzt, worauf Lilith sie vernichtend maß.
»Ihr seid ja alle so naiv. Ein weltgewandter Mann wie Baron Cain hat nämlich an jedem Finger eine Geliebte.«
»Denkt an unseren Plan«, warf ein Mädchen dazwischen. »Auch wenn sie seine Schutzbefohlene ist, sie kommt aus dem Süden, und deshalb müssen wir sie schneiden.«
Kit hatte genug gehört. »Wenn das heißt, dass ich nicht mit euch dummen Puten reden muss, kann mir das nur recht sein.«
Die Mädchen wirbelten herum und musterten sie verblüfft. Kit spürte förmlich, wie ihre Blicke an dem hässlichen Kleid und dem scheußlichen Hut klebten. Oh, wie sie diesen Baron Cain verabscheute! »Raus hier! Alle. Wer sich noch einmal hier blicken lässt, fliegt achtkantig raus!«
Vier Mädchen flüchteten unter schrillem Gekreische. Nur Elsbeth blieb. Sie stand unschlüssig auf und musterte Kit mit großen Augen. Ihre schönen Lippen zitterten kaum merklich.
»Bist du taub oder was? Ich sagte doch, ihr sollt alle verschwinden.«
»Ich… ich kann nicht.«
»Und wieso nicht, zum Kuckuck?«
»Ich… ich wohne hier.«
»Oh.« Unvermittelt realisierte Kit, dass in dem Raum zwei Betten standen.
Das Mädchen hatte ein so liebes, offenes Gesicht, dass Kit es nicht übers Herz brachte, ihm weiter zuzusetzen. Andererseits war es ihre »Feindin«. »Dann musst du eben umziehen.«
»Mrs. … Mrs. Templeton erlaubt es nicht. Ich … ich hab schon gefragt.«
Undamenhaft fluchend zog Kit die langen Röcke hoch und schwang sich auf das Bett. »Wieso hast ausgerechnet du das Glück, mich als Zimmergenossin zu bekommen?«
»Wegen… wegen meinem Vater. Er ist Mr. Cains Anwalt. Ich bin Elsbeth Woodward.«
»Wenn ich jetzt sage, dass ich mich freue, dich kennen zu lernen, ist das glatt gelogen.«
»Ich… ich gehe jetzt besser.«
»Prima Idee.«
Elsbeth lief aus dem Zimmer. Kit ließ sich auf die Kissen zurücksinken und grübelte, wie sie die nächsten drei Jahre überstehen sollte.
Die Templeton Academy arbeitete mit einem Punktesystem für ungehöriges Betragen. Bei zehn Verfehlungen musste ein Mädchen den ganzen Samstag auf seinem Zimmer bleiben. Am Abend ihres ersten Tages hatte Kit schon dreiundachtzig Minuspunkte gesammelt (eine Gotteslästerung bedeutete automatisch zehn Punkte). Gegen Ende der ersten Woche hatte sie bereits den Überblick verloren.
Darauf rief Mrs. Templeton Kit in ihr Büro und drohte ihr mit dem Ausschluss, sofern sie die Schulordnung nicht respektiere. Kit hatte regelmäßig am Unterricht teilzunehmen. Sie bekam zwei Schuluniformen ausgehändigt, von denen sie eine gleich anziehen musste. Und sie möge sich tunlichst gewählter ausdrücken und ihr Mundwerk kontrollieren. Damen benutzten nicht die Umgangssprache oder unschöne Begriffe. Sie erklärten etwas für »unbedeutend«, aber nicht für »unnütz wie Katzendreck«. Und vor allem fluchten sie nicht.
Kit ließ das Gespräch stoisch über sich ergehen, im Innern packte sie jedoch nackte Panik. Wenn diese grausige
Schreckschraube sie hinauswarf, kam das einem Vertragsbruch mit Cain gleich, und dann konnte sie Risen Glory abhaken.
Sie nahm sich fest vor, sich besser anzupassen, was aber schier unmöglich schien. Sie war drei Jahre älter als ihre Mitschülerinnen, wusste aber nicht einmal halb so viel wie diese. Die Mädchen tuschelten hinter ihrem Rücken über ihr stoppelkurzes Haar und kicherten, wenn sie mit ihren langen Röcken an irgendwelchen Stuhlbeinen hängen blieb. Einmal klebten die Seiten ihres Französischbuches zusammen. Ein anderes Mal war ihr Nachthemd völlig verknotet. Bisher hatte Kit sich immer gnadenlos durchgeboxt, und jetzt sollte sie ihr Temperament zügeln? Statt auszuteilen, steckte sie die Kränkungen zähneknirschend ein und verbannte sie in den hintersten Winkel
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