Mitternachtsstimmen
Humphries von zu Hause aus
praktizierte, gab es eigentlich keinen Grund, warum dieser
Fleming nicht auch so verfahren sollte. »Waren Sie schon
einmal in diesem Haus?«, hatte er Hernandez gefragt, als sich
eine Lücke im Verkehrsstrom auftat und er die Straße
überquerte, ohne sich um die Ampel zu scheren, die für
Fußgänger immer noch Rot anzeigte.
»Ja, war ich«, antwortete Hernandez.
Als sie weiter nichts sagte, strafte Oberholzer sie mit einem
säuerlichen Blick. »Und, haben Sie die Freundlichkeit, mir
davon zu erzählen oder was?«
»Da gibt es nicht viel zu erzählen. Meine Mutter hat eine
Weile für Virginia Estherbrook geputzt, als ich ein Kind war,
und mich ein paar mal mitgenommen.«
»Und?«, drängte Oberholzer ungeduldig. »Was halten Sie
von diesem Haus?«
»Gruselig«, gab Hernandez zurück. Sie standen jetzt vor der
imposanten Eingangstür, und auf einmal fing Hernandez zu
kichern an. »Damals hat mir ein Kind in der Schule
weismachen wollen, dass der Portier ein Untoter sei.«
Oberholzer zog eine der beiden schweren Flügeltüren auf,
ließ seiner Kollegin den Vortritt und folgte ihr dann. Als sie die
Glastüren aufzogen, sah Rodney von seiner Zeitung hoch, die
er auf seinem Schreibtisch ausgebreitet hatte. »Ich fürchte, Dr.
Humphries ist im Augenblick nicht zu Hause.«
»Wir kommen nicht wegen ihm«, gab Oberholzer knapp
zurück. »Wo finde ich die Flemings?«
»Tut mir Leid. Aber das darf ich nicht preis–«, begann der
Portier, doch Oberholzer hatte bereits seine Brieftasche
aufgeklappt, um sich auszuweisen.
»Ich verlange gar nicht, dass Sie irgendwas preisgeben«, fiel
er ihm ins Wort. »Beantworten Sie nur meine Frage.«
Rodney sah aus, als wollte er sich nicht so einfach abspeisen
lassen, doch dann überlegte er es sich doch anders. »Apartment
5-A«, sagte er. Fünfter Stock. Auf der Seite zum Park hin.«
»Herzlichen Dank«, erwiderte Oberholzer mit übertriebener
Höflichkeit. Und dann, als er und Hernandez sich zum
Fahrstuhl wandten und Rodney nach dem Telefon griff, setzte
er weniger höflich hinzu: »Sie brauchen uns nicht
anzumelden.«
Rodney wartete, bis der Fahrstuhl mit den zwei Detectives
nach oben verschwunden war und wählte dann Anthony
Flemings Nummer.
Als der Aufzug angehalten hatte und Oberholzer die Tür
aufschob, klemmte diese auf halbem Weg. »Man sollte doch
meinen, dass die sich in diesem vornehmen Stall einen
modernen Lift leisten können«, knurrte er, während er an der
Tür riss.
»Hier in diesem Gemäuer ist anscheinend nichts neu«,
bemerkte Hernandez. »Alles sieht noch genauso aus wie früher,
als ich ein Kind war. Selbst der Portier hat sich nicht
verändert.« Sie erschauderte. »Er hat irgendwie so unheimliche
Augen.«
»Schließlich ist er Portier«, meinte Oberholzer. »Die haben
alle diesen unheimlichen Blick drauf – der gehört zum Job.« Er
drückte auf die Klingel neben der Tür zu Wohnung 5-A, und
klingelte noch einmal, als niemand öffnete. Sein Finger
schwebte bereits über dem Klingelknopf, um ein drittes Mal zu
läuten, da wurde die Tür von einem großen, dunkelhaarigen
Mann in den Vierzigern geöffnet. Sein Blick – nicht direkt
feindselig, aber auch keineswegs freundlich – sagte
Oberholzer, dass der Portier ihren Besuch doch angekündigt
hatte, was die Säure in seinem Magen ein wenig höher steigen
ließ. »Mr. Fleming?« Als sein Gegenüber nickte, zückte
Oberholzer seinen Ausweis und stellte sich vor. »Eigentlich
würde ich gerne mit Ihrer Frau sprechen.«
Anthony Fleming zog die Tür ein Stück weiter auf.
»Kommen Sie doch herein«, sagte er, wobei sich die
Ausdruckslosigkeit seiner Miene und seiner Stimme in leichte
Besorgnis verwandelten. »Wir können uns in meinem
Arbeitszimmer unterhalten.« Er führte Oberholzer und
Hernandez in den holzgetäfelten Raum, und Oberholzer
registrierte mit einem Rundblick jedes einzelne Möbelstück.
Würde man ihn eine Woche später bitten, das Zimmer zu
beschreiben, so hätte er nicht nur das ganze Mobiliar aufführen
können, sondern auch noch dessen exakten Standort. Als
Anthony Fleming seinen Schreibtisch erreicht und sich an die
Kante gelehnt hatte, nachdem keiner der beiden Detectives
seiner Aufforderung, Platz zu nehmen, nachgekommen war,
hatte Oberholzer seinen Blick bereits von der Umgebung
abgewandt und auf den Mann konzentriert.
»Ich nehme an, Sie kommen wegen Andrea Costanza«, sagte
Fleming und stützte die
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