Mitternachtsstimmen
die steil in einen ebenso schmalen
Gang hinabführte, und überlegte. Dann warf er einen Blick
über die Schulter zurück zu dem Lichtstrahl, der durch die
offene Bodenklappe fiel.
Er vermutete, dass dieser Gang in der Mauer zwischen
seinem Zimmer und einem Zimmer der Nachbarwohnung
verlaufen könnte, und als er den Kopf verdrehte, um nach oben
zu spähen, hatte es den Anschein, als endete die Treppe ein
Stockwerk höher. Aber wohin führte der Gang nach unten? Mit
klopfendem Herzen erreichte er die erste Stufe und kroch die
steile Treppe hinab. Mit jeder Stufe schien der Gang noch
schmäler zu werden, und einen Moment lang war Ryan
versucht, umzukehren und sich in die Sicherheit – und ins
Licht – seines Zimmers zu flüchten. Doch dann kämpfte er
seine Angst nieder; wenn es einen Ausweg gab, dann konnte er
nur durch diesen Gang führen.
Tapfer arbeitete er sich weiter voran, um wenig später auf
einen Quergang zu stoßen. Er hielt inne, versuchte sich zu
orientieren, doch in der Enge wusste er nicht, in welche
Richtung er gehen sollte. Und wenn er nun kurz darauf zu
einem anderen Quergang und noch einem käme, würde er nie
wieder zurückfinden. Aber noch während er darüber
nachdachte, wusste er schon, wie er sich behelfen könnte. Er
holte aus seiner rechten Hosentasche das Taschenmesser,
klappte es auf und ritzte mit der Klinge knapp über dem Boden
einen Pfeil in die Wand, der in Richtung Treppe zeigte.
Anschließend leuchtete er mit der Lampe auf die Markierung.
Zufrieden, dass man sie kaum sah, wenn man nicht direkt
danach suchte, entschied er sich für eine Richtung und wandte
sich nach rechts. Nach ein paar Schritten blieb er unvermittelt
stehen, wartete und überlegte, was es gewesen war, das ihn
hatte innehalten lassen.
Instinktiv machte er die Taschenlampe aus und hielt die Luft
an.
Nach ein paar Sekunden, die ihm wie eine Ewigkeit
vorkamen, hatten sich seine Pupillen in der tiefen Dunkelheit
so weit geöffnet, dass er den winzigen Lichtfleck ein paar
Schritte vor ihm erkennen konnte. Abermals musste er gegen
den Drang ankämpfen, einfach umzukehren und sich in sein
Zimmer zu flüchten. Doch als sich der Lichtpunkt nicht
bewegte, kroch er langsam weiter, wagte jedoch nicht, die
Lampe wieder anzuknipsen, sondern tastete sich mit Händen
und Füßen durch die bleierne Finsternis. Und schließlich fand
er die Quelle des winzigen Lichtschimmers: ein kleines Loch
in der Wand des Gangs, auf einer Höhe, dass er, wenn er sich
auf die Zehenspitzen stellte, gerade hindurchspähen konnte.
Er blinzelte mit einem Auge durch das Loch, doch das Licht
auf der anderen Seite blendete ihn, dass er erst einmal warten
musste, bis sich das Auge darauf eingestellt hatte. Dann erst
wurde ihm klar, dass er in ein Zimmer schaute.
Aber nicht in irgendein Zimmer.
In Lauries Zimmer.
Aber da stimmte was nicht – Lauries Bett war nicht
gemacht! Die Decken waren zurückgeschlagen, und die Laken
verknüllt. Laurie machte doch immer ihr Bett, jeden Morgen.
Sie würde nicht einmal frühstücken, wenn sie ihr Bett noch
nicht gemacht hatte.
Warum hatte sie es heute Morgen versäumt?
War sie am Ende überhaupt nicht zur Schule gegangen? War
sie wieder krank? Vielleicht steckte sie ihm Bad und übergab
sich gerade.
Aber wenn sie tatsächlich zu Hause geblieben war – warum
hatte Tony ihm das dann nicht erzählt?
Wenn er ihn wegen Laurie belogen hatte, hatte er dann
wegen seiner Mutter auch gelogen?
Er wollte rufen, wollte Laurie wissen lassen, dass er hier bei
ihr war. Er hatte den Mund schon aufgerissen, da entschied er
sich um. Was, wenn nicht nur Laurie ihn hörte, sondern auch
Tony? Während er die Luft, die er für seinen Schrei in den
Lungen gesammelt hatte, langsam in die Dunkelheit
entweichen ließ, überlegte er, was als Nächstes zu tun war.
Eigentlich gab es nur zwei Möglichkeiten – entweder zurück in
sein Zimmer kriechen oder herausfinden, wohin dieser Gang
führte. In seinem Zimmer konnte er nur tatenlos rumsitzen und
warten.
Also wandte er sich von dem Guckloch ab, knipste die
Taschenlampe wieder an und schlich sich tiefer in den Gang
hinein.
Er kam an eine weitere Abzweigung und an eine weitere
Treppe, hatte jeden Richtungswechsel markiert und befand sich
schon ein Stück weit in dem neuen Gang, als er eine Stimme
hörte.
Die Stimme seines Stiefvaters!
So laut und deutlich, dass ihm schier das Blut in den Adern
gefror, und er wie angenagelt stehen
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