Mitternachtsstimmen
weiß?«, sagte sie und schenkte Beverly ein Lächeln,
das als Versöhnungslächeln gedacht war, auch wenn es etwas
schief saß. »Vielleicht hast du Recht.« Dann wandte sie sich an
Caroline. »Ja, Bev sieht es gewiss ganz richtig, wenn sie meint,
dass es für dich kein Kriterium sein sollte, dass der Mann, mit
dem du ausgehst, zufällig in einem Haus wohnt, das mir nicht
behagt. Verzeih, dass ich überhaupt davon angefangen habe.«
»Und wenn sie ihn nun doch heiratet?«, fragte Rochelle.
»Wirst du sie dann besuchen?«
»Ja«, antwortete Andrea. »Selbstverständlich werde ich
das.«
Doch sie hatte einen Augenblick zu lang mit ihrer Antwort
gezögert, die sich nicht ganz ehrlich anhörte.
Teil 2
Der zweite Albtraum
Da atmete jemand.
Das Geräusch war leise, doch deutlich zu hören.
Sein eigenes Atmen?
Das seines Bruders?
Er wusste es nicht.
Er hatte keine Ahnung, wie lange er sich schon im Dunkeln
befand. Als er sich zuletzt schlafen gelegt hatte – oder was er
für das letzte Mal hielt –, war es nicht ganz dunkel gewesen.
Soweit er sich erinnern konnte, war es nie stockfinster
gewesen. Stets hatte es etwas Licht gegeben. Das Nachtlicht
aus ihrer Babyzeit, als sie zusammen in einem Körbchen
gelegen hatten und später in den Bettchen, die einander
genauso glichen wie sie sich.
Konnte er sich wirklich daran erinnern, in einem Körbchen
geschlafen zu haben?
Oder war die Erinnerung daran nur wieder einer dieser
Träume, die aus der Dunkelheit sickerten?
Die Dunkelheit… gib ihr nicht nach … denke an das Licht…
Als es das Nachtlicht nicht mehr gab, nachdem seine Mutter
gemeint hatte, er sei zu alt für so was, war immer noch
draußen vor den Fenstern Licht gewesen. Wo immer er
gewohnt hatte, hatte es die eine oder andere Art von Licht
gegeben.
Er erinnerte sich an eine Straßenlaterne, eine leuchtende
gelbe Glaskugel auf einer Betonsäule. Sie stand nicht direkt
vor dem Fenster, sondern ein paar Meter weiter, so dass ihr
Licht an die Wand gegenüber von seinem Bett fiel und über die
halbe Zimmerdecke.
Ein anderes Zimmer, wo das einzige Licht von den
Scheinwerfern vorbeifahrender Autos stammte und in endloser
Folge rasende Schatten an die Wände warf. Diese Schatten
hatten schlechte Träume mit sich gebracht, Träume, in denen
er das Opfer war, das gejagt wurde, und ganz gleich, wie
schnell er rannte, es gab kein Entkommen. Doch damals, als es
noch Licht gegeben hatte, erwachte er immer aus diesem
Traum, konnte sich immer wieder ins Licht flüchten.
Im letzten Zimmer war es die ganze Nacht über hell
gewesen. Das weiße Licht der Straßenbeleuchtung schien
herein, die Scheinwerfer der Autos und Lastwagen, die die
ganze Nacht hindurch die Straßen entlangdonnerten, die
Lichter der Hochhäuser in der Umgebung, und an einigen
Tagen im Monat sogar der Mond.
Dies waren die Lichter, die die Albträume brachten, in
denen er sich schließlich verloren hatte.
Die Albträume, in denen er nicht schnell genug rennen
konnte, er immer eingeholt wurde und trotz aller Anstrengungen niemals den Qualen entrinnen konnte, die seiner
Gefangennahme folgten, Qualen, die nicht aufhörten, bis er
glaubte sterben zu müssen.
Qualen, bei denen er sein Leben dahinschwinden spürte, bis
er sich schließlich in der Dunkelheit auflöste, die ihn
umschloss. Doch selbst dann würde das Licht irgendwann
einmal diesen Traum verjagen, nur konnte er nicht mehr sagen,
wann er träumte und wann er wach war, denn selbst im
wachen Zustand spürte er jetzt, wie ihm sein Leben entglitt.
Dann kam die Nacht, in der er der Dunkelheit nicht mehr
hatte entfliehen können.
Damals überfielen ihn diese Albträume so häufig, dass er
sich vor dem Schlafengehen fürchtete, aber was immer er tat,
stets glitt er irgendwie an diesen grauenhaften Ort, von dem es
kein Entfliehen gab. Dort war er umgeben von schemenhaften
Gestalten, die ihn knufften und anstießen und ihm am ganzen
Körper Schmerzen zufügten wie Tausende von Stecknadeln, die
miteinander flüsterten, Worte, die er kaum verstehen konnte,
und die ihm mehr Angst einjagten als ein heulendes Wolfsrudel
draußen vor seinem Fenster.
Jetzt war er gefangen in seinem Albtraum, und alles war
umgekehrt. Jetzt fürchtete er sich vor dem Licht, denn wenn
das Licht kam – irgendein Licht – brachte es Gestalten mit
sich, und die Stimmen und die Qualen.
War das die Bedeutung dieses Atmens?
Waren sie schon in der Nähe, lauerten ihm auf?
Er öffnete den
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