Mittsommersehnsucht
zog schließlich eine kleine silberne Flasche heraus. »Hier, nimm einen Schluck Cognac, das beruhigt.«
Andrea zögerte, dann trank sie dankbar. Der Alkohol wärmte, und sie fühlte sich wohler.
»Danke.«
»Gern. Sag Evelyn zu mir, Doktorin.«
»Ich bin Andrea Sandberg.«
Die rothaarige Malerin trank einen kleinen Schluck. »Schön, dass du hier bist, Andrea.«
Noch Stunden später, das Schiff fuhr ruhig durch die stürmische See in Richtung der Lofoten, war der Himmel wolkenverhangen.
»Wenn das Wetter besser wäre, könntest du die Lofotenwand sehen.« Evelyn und Andrea saßen an der Bar und tranken Tee mit Rum auf die neue Freundschaft. »Aber glaub mir, in ein paar Stunden scheint die Sonne wieder.«
»Das wage ich zu bezweifeln.« Andrea sah hinaus in das triste Grau. Nur vereinzelt blitzten rechts und links Lichter auf. Es waren die kleinen, auf Felsen befestigten Leuchttürme, die dieses tröstliche Licht spendeten. Obwohl fast alle Schiffe mit moderner Navigationstechnik ausgestattet waren, blieben diese Leuchttürme fester Bestandteil der Küstenlandschaft. Sie grüßten die Schiffer, spendeten Helligkeit und wünschten den Fremden, die zum ersten Mal in Richtung Norden fuhren, eine gute Reise.
»Morgen sind wir am Troll-Fjord.« Evelyn rutschte von ihrem Barhocker. »Sieh zu, dass dich die frechen Kerlchen in der kommenden Nacht nicht erschrecken.« Sie zwinkerte Andrea zu. »Bis dann. Wir sehen uns.«
9
K ein Mensch kann genau sagen, wie viele Fjorde es an der Küste gibt, doch einer ist besonders schön …«
»Der Troll-Fjord, ich weiß!« Kim hatte wieder ihre Tracht an. Auf dem dunklen Haar der Perücke saß die rote Kappe mit der breiten Bordüre aus bunten Perlen. Nicht dazu passten die dicken gelben Schleifen, die Andrea dem kleinen Mädchen am Tag vorher ins Haar gebunden hatte. Doch Kim bestand darauf, sie auch heute zu tragen.
»Die Trolle finden mich bestimmt, wenn ich so bunte Schleifen habe«, sagte sie, bevor sie die Kabine verließen, »das hat kein anderes Kind.«
Ole hatte zustimmend genickt und ihr die Bänder ins Haar gebunden. »Gleich wird es ganz eng«, erklärte er und legte den Arm um Kim. »Der Raftsund war früher für die Schifffahrt sehr gefährlich. Und auch heute noch müssen die Kapitäne hier sehr aufpassen.«
Kim hörte kaum hin, sie hatte Andrea entdeckt und winkte ihr zu. Da die Ärztin sie nicht gleich bemerkte, wollte Kim ihr entgegenlaufen, doch sie taumelte und fiel. Schnell rappelte sie sich wieder hoch, und Andrea, die endlich auf die Kleine aufmerksam geworden war, stellte bestürzt fest, dass Kims linkes Bein immer wieder einknickte. Unkoordiniert wirkten die Bewegungen, und Kim kam schließlich mühsam auf ihre neue Freundin zugehinkt.
»Die Trolle!« Sie schien das Hinken zu ignorieren und war ganz aufgeregt. »Jetzt sind wir gleich bei den Trollen, Andrea!«
»Ich weiß. Der Troll-Fjord ist wunderschön.«
»Das haben die Trolle auch gewusst. Gleich sind wir da!« Kim griff nach Andreas Hand. »Sie haben sich überall an der Küste umgesehen, aber hier hat es ihnen am besten gefallen. Sie sitzen oben auf den Bergen, und wenn sie schlecht gelaunt sind, werfen sie mit Steinen nach den Booten auf dem Wasser.« Sie lachte und warf den linken Zopf in den Nacken. »Aber heute sind sie gut gelaunt. Sogar die Sonne scheint auf den Trolltindan. Sieh nur!« Sie wies zu dem mehr als tausend Meter hohen Berg, dessen steile Felswände bedrohlich nahe waren.
»Du weißt sogar, wie die Berge heißen. Das ist ja toll!«
»Ich wohne doch hier ganz in der Nähe … wenn wir nicht mit den Rentierherden unterwegs sind. Meine Familie hat ganz viele Rentiere. Meins ist weiß und hat rote Augen. Mein Papa hat es mir geschenkt. Es wohnt immer bei uns und ist ganz zahm. Papa sagt, dass es nicht zu der Herde darf, aber bei mir ist es in Sicherheit.« Sie biss sich auf die Lippe. »Ich würde Flocke gern noch einmal streicheln, sie hat so weiches Fell …«
»Das kannst du schon bald tun, ganz bestimmt!«
Kim schwieg, doch in ihren Augen lag auf einmal eine grenzenlose Traurigkeit.
»Kim!« Ole winkte der Kleinen zu. »Komm her, bitte.«
Kim kicherte und umklammerte Andreas Hand noch fester. »Er hat immer Angst um mich. Dabei muss er das nicht. Ich weiß doch, dass ich krank bin. Aber das ist nicht so schlimm. Wenn es sehr weh tut, bekomme ich Tabletten oder Spritzen. Das war schon in der Klinik so. Und wenn wir zu Hause sind, wird es der Doktor Johan machen.
Weitere Kostenlose Bücher