Mittsommersehnsucht
Rentier und an Johan. Er wird uns am Schiff abholen, das hat er mir am Telefon versprochen.« Während er sprach, liefen ihm zwei Tränen über die faltigen Wangen, und der Blick, den er zu Andrea hinüberschickte, war voller Leid und Hoffnungslosigkeit.
»Kann ich etwas tun?«, fragte Andrea.
»In meinem Rucksack sind Tabletten – und eine Wasserflasche.« Ole wies auf den sandfarbenen Rucksack, den er achtlos auf den Boden geworfen hatte.
Andrea musste nicht lange suchen, in der vorderen Tasche fand sie eine Wasserflasche und die Tabletten. Als sie die Aufschrift las, zuckte sie zusammen. Das war ein stark konzentriertes Schmerzmittel, das man Patienten im Endstadium verabreichte, kurz bevor man sie mit Morphium behandeln musste, um ihnen die Schmerzen zu nehmen. Geschockt sah sie auf.
Ole nickte nur, und so schob sie Kim die Tablette zwischen die Lippen. Nachdem Kim einen Schluck Wasser getrunken hatte, hob Ole sie hoch und trug sie zu einer Bank, die im Schatten einer halbhohen Hecke stand. Kim hielt die Augen geschlossen, sie atmete flach, während sich kleine Schweißperlen auf ihrer Oberlippe bildeten.
Andrea griff nach der schmalen Hand des Kindes und zählte den Puls aus – er war nicht allzu schwach. »Wir sollten sie zurück zum Schiff tragen«, schlug sie Ole vor.
»Gleich. Sie muss erst ein wenig ruhen. Dann bringe ich sie zurück.« Er presste kurz die Lippen zusammen, und als er Andrea wieder ansah, stand unendlicher Schmerz in seinen dunklen Augen. Es waren Augen, die schon viel gesehen hatten. Oles Gesicht war voller Falten, die Geschichten eines langen Lebens erzählten. Gute und traurige, amüsante und bewegende. Jetzt war das Gesicht von Angst und Sorge geprägt, und auch von dem Wissen, dass es keine Rettung mehr für das Kind in seinen Armen gab.
Molde, die schöne Hafenstadt mit den vielen Parks und dem fast südländischen Charme, hatte plötzlich für Andrea allen Reiz verloren. Sie hatte keine Freude mehr daran, sich den Ort anzusehen, sondern begleitete Ole und Kim, die von ihrem Großvater getragen wurde, aufs Schiff zurück. Als sie vor der Kabinentür standen, bot sie an: »Soll ich Kim einmal untersuchen? Es wäre keine Mühe für mich.«
Ole zögerte, dann schüttelte er den Kopf. »Es ist zu spät«, antwortete er leise. »Aber sollte ich Hilfe brauchen, darf ich rufen, ja?«
»Natürlich.« Andrea hielt ihm die Tür auf und sah zu, wie er das kleine Mädchen behutsam auf das schmale Bett legte, das links vom Kabinenfenster stand. Ein großer Bernhardiner aus Plüsch lag quer über dem Bett mit dem hellgelben Bezug, daneben eine Robbe und die halb fertige Trollfigur, an der Ole geschnitzt hatte.
Auf einem Ständer entdeckte Andrea Kims Perücke, davor lagen auf dem schmalen Tisch diverse Medikamentenschachteln und ein gerahmtes Foto, das eine Samenfamilie mit drei Rentieren zeigte. Sie konnte nicht erkennen, ob auch Kim auf dem Foto zu sehen war.
Gerade wollte sie die Tür schließen, als ein leises Stöhnen vom Bett her erklang. Kim, die gerade noch ruhig dagelegen hatte, den Arm um den Stoffhund geschlungen, begann zu krampfen. Ihre Gesichtszüge zuckten, das linke Bein zitterte stark, und die Schmerzenslaute, die über die blassen Lippen kamen, wurden immer intensiver. Schweiß stand auf der Stirn des Kindes, dessen Finger sich so fest in das Kunstfell des Stofftiers krallten, dass die Knöchel weiß hervortraten.
Ole sah voller Panik erst auf Kim, dann zu Andrea hinüber. Die junge Ärztin besann sich nicht lange, kontrollierte die Medikamente, die Ole in einem kleinen Notfallkoffer auf dem Tisch liegen hatte, und zog dann eine Spritze auf. »Hat sie das häufiger?«, erkundigte sie sich leise.
»Nein … erst einmal in der Klinik. Ich … ich kann das nicht tun. Ich kann sie nicht stechen.« Der alte Mann schlug die Hände vors Gesicht.
»Das mache ich ja.« Andreas Stimme blieb ruhig, während sie dem Mädchen das krampflösende Mittel injizierte.
»Noch zwei Tage, dann sind wir daheim, dann hilft mir Johan.« Der alte Mann drückte Andreas Hand. »Danke, dass du da bist. Bengt hat es gewusst.«
»Bengt? Was hat er gewusst?« Andrea runzelte die Stirn.
»Dass wir Hilfe brauchen.« Ole ging zum Bett und nahm Kims Hand, die sich jetzt leicht von dem Stofftier lösen ließ. Kurz drehte er sich noch einmal zu der jungen Ärztin um.
In seinen Augen, die eben noch voller Tränen gestanden hatten, war auf einmal ein Feuer, das Andrea zu hypnotisieren schien.
8
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