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Mittsommersehnsucht

Mittsommersehnsucht

Titel: Mittsommersehnsucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elfie Ligensa
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Er ist ein Freund von Ole und sehr, sehr nett. Er kennt fast so viele Geschichten wie Ole.«
    Sie löste sich von Andrea und ging zu dem alten Mann, der an der Reling stand und hinauf zu den schroffen Berghängen schaute, die so nahe waren, dass man glaubte, den feuchten Fels und das sattgrüne Moos anfassen zu können. Sanft legte Kim ihre Hand in Oles große Pranke. Sie schauten übers Wasser, das in einem tiefen Blau schimmerte.
    Langsam schlenderte Andrea zu den beiden und stellte sich an Oles andere Seite. Andächtig und still waren sie, so wie die meisten Passagiere, die sich von der einzigartigen Schönheit dieses Fjordes faszinieren ließen.
    Als das Schiff den Raftsund verließ, bat Kim mit plötzlich müder Stimme: »Erzähl Andrea die Geschichte von den Sieben Schwestern, Ole, bitte.«
    Der alte Mann lächelte und schob sich die blaue Mütze aus der Stirn. »Du willst sie nur noch mal hören. Aber du kennst sie doch schon genau.«
    »Klar. Aber Andrea kennt die Geschichte noch nicht. Oder?« Fragend sah sie zu der jungen Ärztin auf.
    »Nein, die kenne ich noch nicht. Ich bin ganz gespannt.« Andrea zwinkerte Kim zu.
    »Na dann … aber wir setzen uns hin.« Ole führte Kim zu einer Bank im Windschatten. Nachdem er ihr seinen breiten blauen Strickschal fest um die Schultern gelegt hatte, begann er: »Es waren einmal sieben schöne Schwestern, die vom Vågekallen verfolgt wurden, der sich gerade auf Freiersfüßen befand. Sie reizten ihn, tanzten nackt vor ihm am Fjord, bis er wütend wurde. Da liefen sie voller Angst vor ihm davon, weiter und weiter weg von daheim. Nach vielen Stunden waren sie so erschöpft, dass sie sich einfach auf die Erde sinken ließen. Doch dann, ganz plötzlich, ging die Sonne auf, und sie erstarrten zu Stein. Noch heute tanzen sie in hellen Nächten über die Wellen und zwischen den kleinen Inseln hindurch. Doch wenn die Sonne aufgeht, werden sie wieder zu hartem Fels.« Er warf einen Blick auf Kim, die den Kopf an die Rücklehne der Bank gelehnt hatte und fest schlief.
    »Sie wird immer schwächer«, murmelte er bedrückt. »Die Phasen, in denen sie sich wirklich gut fühlt, nehmen rapide ab.«
    »Kann man denn gar nichts mehr machen?«
    Ole schüttelte den Kopf. »Nein. Die Ärzte sind mit ihrer Kunst am Ende. Der Tumor wächst in rasender Schnelligkeit und ist inoperabel. Man hat so vieles versucht, die arme Kleine so gequält mit Bestrahlungen und Chemotherapie. Alles umsonst. Und ich … ich kann auch nichts mehr für sie tun. Ich kann sie nur noch heimbringen.« Sein Blick ging an Andrea vorbei, blieb an den Felsen haften, glitt hoch zum Himmel, dessen lichtes Blau so viel Fröhlichkeit und Verheißung versprach. Als Ole zu den schroffen Gipfeln hinüberschaute, glitzerten Tränen in seinen alten Augen.

10
    A ndrea erwachte von einem ungewohnten Geräusch – hart klatschte der Regen gegen das kleine Fenster ihrer Kabine. Es war ungewöhnlich dunkel, sie musste die kleine Lampe über ihrem schmalen Bett anknipsen, um etwas sehen zu können. Als sie aufstand, merkte sie, wie heftig das Schiff schlingerte. Die See musste sehr rau sein, dass sogar die Stabilisatoren der Midnatsol den hohen Wellengang nicht ganz ausgleichen konnten.
    Gähnend strich sich Andrea eine Haarsträhne aus der Stirn, während sie sich mühte, einen besseren Blick aus dem Fenster zu bekommen. Doch sie sah nur tief hängende graue Wolken, bizarr geformt, aus denen wie ein dichter Schleier der Regen fiel.
    Eine Schiffssirene ertönte und bekam gleich drei hellere Antworten. Der Lautsprecher über der Tür knackte, und blechern erklang die Stimme des Reiseleiters. »In einer halben Stunde erreichen wir den Hafen von Stamsund. Da sich die Wetterverhältnisse rapide verschlechtert haben, raten wir beim Verlassen des Schiffes zu größter Vorsicht.«
    Die Midnatsol hatte ihre Fahrt verlangsamt, und die ersten Passagiere standen bestimmt schon an Deck, um das Einlaufen in den Hafen nicht zu verpassen. Andrea amüsierte sich ein wenig über die kleine Gruppe Engländer, die unverdrossen in jedem Hafen von Bord gingen, auch wenn der Aufenthalt nur eine oder zwei Stunden dauerte.
    Mit der Morgentoilette war Andrea rasch fertig. Auf Make-up und eine gestylte Frisur konnte sie heute gut verzichten. Doch es war ratsam, die warme, wetterfeste Jacke mitzunehmen, die sie sich, so wie eine weitere Hose und zwei Pullis, im Hafen von Trondheim gekauft hatte. Das wenige, das sie mitgenommen hatte, reichte einfach nicht,

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