Mittsommersehnsucht
vor allem fehlten ihr warme Sachen. Aber das war, wie sie beim Einkaufen selbstironisch festgestellt hatte, das geringste Problem.
Zum Frühstück trug sie eine graue Flanellhose, dazu eine lange rosafarbene Bluse mit weißem Kragen. Den grauen Pulli hatte sie sich locker über die Schultern gehängt. Frisch sah sie aus, und ein paar Männer, die von einem Kurzurlaub auf dem Festland heimkehrten und am kommenden Tag wieder ihren Job in einer Fischfabrik aufnehmen würden, sahen ihr bewundernd nach, als sie durch den Aufenthaltsraum in den Speisesaal ging.
Nur wenige Passagiere nahmen ihr Frühstück heute hier ein, vergeblich schaute Andrea sich nach Kim und ihrem Onkel um.
Sie hatte gerade die zweite Tasse Kaffee getrunken, als das Anlegemanöver begann. Die Maschinen wurden gedrosselt, der PS-starke Dieselmotor versuchte erfolgreich, sich gegen die hoch an die Hafenmauern klatschenden Wellen durchzusetzen.
So sanft, wie man es kaum für möglich gehalten hätte, legte die Midnatsol an. Dichter Nebel nahm jedoch die Sicht auf den Ort, der sich fast trotzig an eine Felswand schmiegte. Nur schemenhaft waren die meist rostrot gestrichenen Häuser in Hafennähe zu erkennen. Andrea wusste inzwischen, dass die Farben der Häuser eine historische Bedeutung hatten: Das teure Weiß war früher dem Besitzer des Hafens – und damit dem reichsten Mann im Ort – vorbehalten gewesen, gelb war der Anstrich der Gebäude, in denen das Geld verdient wurde, nämlich die Fabriken und Lagerhäuser. Braunrot gestrichen wurden die Häuser der Arbeiter und Fischer.
So exakt war die Aufteilung heute allerdings nicht mehr. Auch wurde der dunkelrote Anstrich nicht mehr aus Dorschleber-Abfällen hergestellt. Seit sie dies alles gelesen hatte, sah sie die kleinen, so fröhlich aussehenden Rorbuer mit anderen Augen. Wie hart musste das Leben noch vor fünfzig Jahren in einer solchen Hütte gewesen sein! Es mussten ganz besondere Menschen sein, die in relativer Armut und Abgeschiedenheit, weit entfernt von den Verlockungen der Großstadt, lebten. Doch vielleicht, ging es Andrea durch den Kopf, waren sie glücklicher gewesen als mancher heutzutage, der via Internet mit der ganzen Welt kommunizieren konnte, der sich von falschem Glanz blenden ließ und in dem sich nach und nach immer stärkere Unzufriedenheit aufbaute, weil sein Leben nicht ganz so wundervoll verlief wie das eines Großstadtmenschen.
Aber – waren diese Menschen, die alles besaßen und sich alles leisten konnten, denen kein Wunsch unerfüllt blieb, wirklich glücklicher? Beneidenswerter? Waren sie ein Vorbild? Nein, wahrlich nicht!
»Du musst dich beeilen, Frau Doktor.« Plötzlich stand Ole neben ihrem Tisch.
»Guten Morgen, Ole. Du bist allein? Geht es Kim nicht gut?« Andrea legte die Serviette neben ihren Teller und stand auf.
»Sie schläft. Wir werden nicht aussteigen, sondern bis Svolvær an Bord bleiben.« Die Stimme des alten Mannes klang ruhig, und seine blauen Augen unter den buschigen, fast weißen Brauen sahen Andrea eindringlich an. »Geh jetzt rasch. Du wirst am Hafen gebraucht. Glaube ich«, fügte er noch hinzu.
»Aber …«
»Bitte.« Er nahm ihren Arm und zog sie hoch. »Ich weiß es. Frag nicht, warum das so ist. Aber du solltest gehen.«
Was brachte es, sich mit ihm auseinanderzusetzen? Ihn umgab etwas Mystisches, das hatte sie inzwischen bemerkt.
Immer noch regnete es in Strömen, doch das tat der Betriebsamkeit an den Kaianlagen keinen Abbruch. Andrea bemerkte zwei Fischtrawler, die ausliefen, ein Containerschiff wurde beladen. Von einem großen Gebäude, das rechts vom Anlegekai stand, fuhren immer wieder Lastwagen mit Frischhalteboxen zu drei kleineren Booten, die an einem anderen Kai festgemacht hatten.
Andrea war überrascht von dem Verkehr, der auf den wenigen Straßen herrschte. Sie zuckte leicht zusammen, als aus der Ferne eine Sirene ertönte, doch zu sehen waren weder Feuerwehr noch ein Krankenwagen.
Mit etlichen anderen Passagieren verließ Andrea das Schiff und sah sich auf dem kleinen Platz vor dem Anleger um. Die Ortschaft war vor etwa hundert Jahren in den Fels gesprengt worden, noch heute dominierten die Fischfabriken das Leben hier. Viele der Häuser standen auf Holzpfählen, die schmalen Anleger reichten weit ins Meer hinaus. Beinahe zu jedem Haus am Ufer gehörte ein eigener Holzsteg. Sicher war es in dieser Gegend nützlicher, ein Boot zu besitzen als ein Auto.
Lautes, aufgeregtes Rufen machte Andrea auf ein Boot
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