Mittsommersehnsucht
sich.
»Nein. Heute zumindest nicht.« James schüttelte den Kopf. »Magnus hatte ihn gerade aus einer Kiste genommen und wollte ihn einsetzen, als einer der Matrosen unseres Schiffes über ein Tau stolperte – und ziemlich unglücklich gegen Magnus fiel. Als dieser stürzte, riss er sich mit dem Haken das Bein auf.«
Inzwischen war Nils mit einem großen Notfall-Set herangekommen. Als Andrea den stählernen Koffer öffnete, sah sie zu ihrer Erleichterung, dass sich ein steriles chirurgisches Besteck darin befand. Es gab Desinfektionslösung und ausreichend Mull. Sogar Betäubungsmittel fanden sich. Hier, weitab von einer Klinik oder einer gut ausgestatteten Praxis, war es wohl notwendig, alles Wichtige zur Erstversorgung bereitliegen zu haben. Sie konnte sich vorstellen, dass es in einer Fabrik oder in Lagerhallen immer wieder einmal zu Verletzungen kam.
»Ich werde ihm erst mal was gegen die Schmerzen geben«, sagte sie und beugte sich tiefer über den Mann, dessen Augenlider flatterten. Unruhig bewegten sich die Hände, ein unterdrücktes Stöhnen kam über seine Lippen. Rasch streifte sich Andrea sterile Handschuhe über und injizierte das schmerzstillende Mittel.
»Oh, das tut höllisch weh«, presste Magnus mühsam hervor, dann öffnete er die Augen. Zu Andreas Überraschung sprach er Deutsch, verfiel aber gleich darauf ins Englische. »Hey, was machst du da?«
»Ganz ruhig, Magnus. Sie ist Ärztin und versucht dir zu helfen.« James nahm kurz die Hand des Freundes.
Andrea nickte. »Vertrauen Sie mir, ich tue, was ich kann.«
»Hoffentlich reicht das«, stieß er hervor.
»Berufspessimist, ja?« Andrea schaute nicht auf, während sie sprach. »Sie können übrigens weiter Deutsch mit mir reden, wenn Sie mögen. Und bleiben Sie ganz ruhig liegen, gleich geht es Ihnen besser. Wir warten noch, bis die Spritze wirkt, dann ziehe ich den Haken heraus und untersuche die Wunde genauer. Zwischendurch muss ich leider noch mal den Knebel lösen … zu lange darf die Blutversorgung des Beins nicht unterbunden werden, wie Sie ja wissen. Ich vermute, dass Sie exakt den Gastrocnemiusmuskel getroffen haben.«
»Und jetzt?«
»Sie bleiben ruhig liegen, den Rest mache ich.« Sie lächelte Magnus beruhigend zu, während sie sich daranmachte, das Tuch und den Knebel, mit dem das Bein am Oberschenkel abgebunden worden war, zu lösen.
»Hier in der Halle? Na toll! Können Sie das überhaupt?« Von der Erleichterung, die der Verletzte eben noch verspürt hatte, da die Spritze bereits wirkte, war nichts mehr zu merken. Skeptisch sah er zu Andrea hoch. »Sie sind noch so jung und …«
»Eine Frau, die Ärztin ist, genau.« Andrea schüttelte den Kopf. »Das Mittelalter liegt hinter uns, schon bemerkt?«
»Mann, sei froh, dass wir einen Doc hier haben.« James drückte die Hand des Freundes. »Bis zur Klinik ist es mit dem Auto zu weit.«
»Was ist jetzt, soll ich nun operieren oder nicht? Wenn Sie nicht einverstanden sind, müssen Sie auf den Dorfarzt warten.« Andrea trat von dem provisorischen OP -Tisch zurück. »Es liegt ganz bei Ihnen.«
Magnus, dessen Schmerzen dank der Injektion geringer geworden waren, versuchte sich aufzurichten, doch als er das dunkelrote Blut sah, das nicht nur seine Hose durchnässt hatte, sondern bis in die Schuhe gesickert war, sank er mit einem Seufzer wieder zurück.
»Ein Held also«, stellte Andrea fest.
»Tu, was du tun musst, Doc«, bat James. »Magnus weiß doch gar nicht mehr, was er sagt.«
»Er sollte aber einverstanden sein, dass ich ihn behandele.«
»Bin ich ja. Los doch. Oh, verdammt, du bist ja wahnsinnig!« Spontan duzte er sie jetzt auch. Andrea hatte den Knebel wieder angelegt und die massive Blutung erneut zum Stillstand gebracht. Sie wandte sich an James. »Kannst du mir assistieren?«
Der große Mann biss sich kurz auf die Lippe. »Ich hoff’s jedenfalls.«
»Wir müssen deinen Freund wohl narkotisieren, bevor ich die Wunde nähen kann.«
»Das muss nicht sein. Ich kann was aushalten«, murmelte Magnus.
»Na dann …« Andrea nickte ihm zu. Er würde schon merken, wie weh es tat, wenn sie sein Bein versorgte. Aber dann war immer noch Zeit, ihm eine kurze Anästhesie zu verpassen. Ihr Patient schien höchst eigenwillig zu sein. Es war schon ziemlich unverschämt von ihm, in seiner Situation an ihren Fähigkeiten zu zweifeln. Wenn er wüsste, dass sie ein Jahr in Amerika, genau gesagt in Boston, an einem erstklassigen Krankenhaus gearbeitet hatte. Und auch die
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