Mittsommersehnsucht
es, wie du willst … Erik ist Tierfilmer und Fotograf. Manchmal ist er wochenlang unterwegs, um bestimmte Tierarten vor die Linse zu bekommen. Aber seit gestern hat er Urlaub – zumindest sagt er das. Ich denke aber, dass er zwischendurch mal zur Vogelkolonie in der Kapregion fahren wird. Zuvor aber bleiben wir ein paar Tage zusammen auf dem Schiff. Wir sehen uns noch mal die Eismeerkathedrale an, dann geht es mit dem südlich fahrenden Postschiff zurück auf meine Insel.«
»Dann wünsche ich euch beiden viel Vergnügen, genießt die gemeinsamen Ferientage.«
»Danke. Aber wir sind nicht mehr so verliebt, dass wir immerzu allein sein wollen. Komm doch mit, ich zeige dir dann ganz privat die Stadt – und natürlich die Eismeerkathedrale.«
»Danke, das Angebot nehme ich gerne an. Die Kirche muss wunderschön sein.« Andrea beugte sich ein wenig über die Reling, denn in der Ferne war schon die weit gespannte Brücke zu sehen, die die einzelnen Stadtteile Tromsøs miteinander verband. »Die Glasmosaiken sind sehenswert, hab ich gelesen.«
»Davon lasse ich mich immer wieder inspirieren«, gestand Evelyn. »Außerdem kann man in Tromsø herrlich shoppen. Man merkt, dass viele junge Leute, hauptsächlich Studenten, in der Region leben. Ach, da kommt Erik schon«, unterbrach sie sich und winkte einem schlanken, fast zwei Meter großen Mann zu, der ihnen lächelnd entgegenkam. Er trug zu einer dunkelblauen Hose einen hellblauen Norwegerpulli und sah ausgesprochen gut darin aus. Das blonde Haar war kurz geschnitten, an den Schläfen schimmerte es weiß. Und auch der akkurat gestutzte Kinnbart hatte mehr weiße als blonde Haare. Doch das schmälerte seine Attraktivität nicht, im Gegenteil. Er war klug und charmant, wie Andrea in den nächsten Stunden feststellen konnte, als sie durch die Stadt schlenderten. Er wusste viel zu erzählen über die Stadt, das Land, die Weite des Nordmeeres. Und rasch merkte Andrea, dass er bereits die halbe Welt bereist hatte. Seine norwegische Heimat jedoch liebte er mehr als alles andere.
»Tromsø war Ausgangspunkt vieler Polarexpeditionen. Nansen, Amundsen und etliche andere haben hier ihre Mannschaften zusammengestellt«, erklärte er.
Andrea war fasziniert, erst als sie die Kathedrale betraten, wurden alle still. Sie war fasziniert von der ungewöhnlichen Architektur des Gotteshauses. Draußen hatte ihr Evelyn erklärt, dass die Dachkonstruktion Eisplatten symbolisieren sollte.
»Die Form der Kirche ist den Gestellen, auf denen der Stockfisch getrocknet wird, nachempfunden«, hatte Erik hinzugefügt. »Aber am schönsten ist das riesige Fenster. Es ist eins der größten Glasgemälde weltweit.«
Ebenso andächtig wie fasziniert sah sich Andrea im Kirchenraum um, der von dem hauptsächlich aus blauem Glas bestehenden Fenster dominiert wurde. Eine schlanke Figur in der Mitte zeigte die Wiederkehr Christi. Stilvolle Glaslampen hingen von der hohen Decke, und Andrea stellte sich vor, wie beeindruckend dieser Raum in den tristen Wintermonaten wirken musste, wenn es auch am Tag kaum richtig hell wurde.
»Und jetzt gehen wir bummeln«, schlug Evelyn vor, als sie das imposante Kirchengebäude verlassen hatten. »Ich kenne zwei Boutiquen ganz in der Nähe … du wirst begeistert sein.«
Andrea erwiderte nichts. Im Grunde machte sie sich nicht allzu viel aus Mode. Ein, zwei elegante Kleider zum Ausgehen, ein paar Hosenanzüge, etliche Jeans … das hatte ihr lange Zeit genügt. Erst seit sie Jonas kannte, legte sie mehr Wert auf ihr Outfit.
Aber das ist jetzt ja auch vorbei, dachte sie. Und ließ sich in der nächsten Stunde doch von Evelyns Begeisterung anstecken. Die Malerin hatte ein exzellentes Gespür für Farben, für ausgefallene Schnitte und Qualität. Sie kaufte für sich ein hellgrünes Leinenkleid, das schräg geschnitten war und am Ausschnitt eine dunkelgrüne Stickerei in einem fantasievollen Muster hatte.
Andrea ließ sich zu einer roten Bluse und einer hellen Hose überreden. Dazu erstand sie eine Kette aus hellroten Steinen und kleinen Perlen, die perfekt zur Jacke passte.
»Die Sachen sind wie für dich gemacht«, stellte Evelyn lächelnd fest, während die Verkäuferin alles in eine Tüte packte. »Ich hab ja gewusst, dass wir hier was Tolles finden würden.«
Während sie dann, die Einkaufstüten in der Hand, weiter durch die Stadt schlenderten, dachte Andrea darüber nach, wie sehr sich doch ihr Leben in den letzten Tagen verändert hatte. Nichts war mehr so,
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