Mittsommersehnsucht
Stunden geht die Fahrt weiter. Wenn ihr meint, dass mein Kollege den Verletzten versorgen kann, geht das für mich in Ordnung. Macht’s gut.« Sie nickte ihrem Patienten, James und den drei anderen Männern, die in einigen Metern Entfernung standen, zu und machte Anstalten, den Raum zu verlassen.
»Doktor!« Magnus’ Stimme hielt sie zurück. »Danke. Ich danke dir sehr.« Er richtete sich ein wenig auf, und zum ersten Mal wurde Andrea bewusst, dass er ein ausgesprochen gut aussehender Typ war. Das braungebrannte Gesicht wurde von den tiefblauen Augen beherrscht, unter denen jetzt noch ein paar Schatten lagen – Beweis dafür, dass der Mann sich alles andere als wohl fühlte. Aber der sanft geschwungene Mund war jetzt zu einem Lächeln verzogen, und rechts in der Wange bildete sich ein kleines Grübchen. Die Stimme, warm und auf einmal samtweich, erinnerte Andrea ein wenig an die Stimme des alten Ole, sie war faszinierend und bezwingend zugleich.
»Ist schon in Ordnung. Gute Besserung.« Beinahe fluchtartig verließ sie dann die Kantine, irritiert von dem heftigen Herzklopfen, das sie auf einmal verspürte.
An einem Bummel durch den Ort, der nicht allzu malerisch war, wie sie feststellte, verlor sie rasch die Lust und kehrte zum Schiffsanleger zurück. Stamsund bestand in erster Linie aus fischverarbeitenden Betrieben. Es gab zwei, drei Geschäfte und ein paar Wohnhäuser, die alle im gleichen Stil gebaut waren. Kleine Gärten gab es in diesem Ort, der vor etwa hundert Jahren in den Fels geschlagen worden war, allerdings nicht.
Die Mannschaft der Midnatsol machte sich zum Ablegen bereit, und Andrea beeilte sich, wieder aufs Schiff zu kommen. Das Ablegemanöver, vor drei Tagen noch für die Passagiere etwas Besonderes, hatte inzwischen für die meisten seinen Reiz verloren. Nur wenige der Reisenden standen an Deck und sahen zu, wie die bunten Häuser hinter dem Dunst- und Regenschleier kleiner und kleiner wurden.
Der Sturm nahm in den nächsten Stunden noch zu, heftig trommelte der Regen gegen die großen Panoramafenster, und wer nicht hinausmusste, blieb in der Wärme des Schiffes.
Andrea, die sich ziemlich erschöpft fühlte, trank einen Tee mit Rum und aß nur ein Sandwich dazu, dann ging sie in ihre Kabine. Sie sah nichts von Svolvær, der Hauptstadt der Lofoten, denn sie schlief tief und fest.
11
A ls sie erwachte, schien die Sonne durch das kleine Fenster, die dunklen Regenwolken waren wie von Zauberhand verschwunden.
Lächelnd lehnte Andrea sich noch einmal im Bett zurück. Sie verschränkte die Hände hinter dem Kopf und ließ das gestrige Geschehen Revue passieren. Eine Notoperation in einer Betriebskantine … das war mehr als außergewöhnlich. Aber sie hatte es geschafft, die starke Blutung zu stoppen und den verletzten Muskel perfekt zu nähen. Die Kollegen aus der Klinik, denen sich der starrköpfige Magnus hoffentlich doch anvertrauen würde, hatten gewiss nicht mehr viel Arbeit mit ihm.
Magnus … ein interessanter Mann! Auch in seinem elenden Zustand war etwas Reizvolles, ja beinahe Erotisches von ihm ausgegangen. Hätte er nicht solche Schmerzen gehabt, dann hätte er vielleicht mit mir geflirtet, schoss es Andrea durch den Kopf. – Und du?, fragte eine innere Stimme, was hättest du dazu gesagt? Ich hätte es genossen, gab sie ehrlich zu.
Aber es war müßig, länger über diesen Patienten, den sie niemals wiedersehen würde, nachzudenken. Sie konnte nur hoffen, dass er einsichtig genug war, sich in optimale Behandlung zu begeben. Und ich begebe mich jetzt an die frische Luft, sagte sie sich und schwang entschlossen die Beine aus dem Bett. Lange genug geschlafen hatte sie nun wirklich.
Obwohl die Sonne schien, war es kühl an Deck. Nicht umsonst hieß Tromsø »das Tor zum Eismeer«. Andrea machte sich klar, dass sie der Arktis und dem ewigen Eis recht nahe war. Fester zog sie die wattierte Jacke, die sie sich schon in Ålesund gekauft hatte, um sich.
»Ein herrliches Wetter, nicht wahr! Und dieses Licht … betörend.« Evelyn Wahlstrom kam eine steile Eisentreppe hochgeklettert und stellte sich neben Andrea. »Ich bin immer wieder fasziniert von dem ganz besonderen Flair.«
»Bist du deshalb noch an Bord geblieben? Ich dachte, du lebst auf den Lofoten und wärst in Svolvær ausgestiegen.«
Die rothaarige Malerin lachte. »Wäre ich normalerweise auch. Aber ganz unerwartet ist Erik an Bord gekommen.«
»Erik?«
»Mein Freund. Verlobter. Lebenspartner.« Evelyn lachte. »Nenn
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