Mittsommersehnsucht
»Dieser Mensch ist unmöglich«, schimpfte sie dabei vor sich hin. »Wollte heute Morgen unbedingt aufstehen und sich waschen. Prompt ist ihm schwindelig geworden, er ist an eine Kommode gestoßen und die Wunde ist aufgeplatzt. Er hat geblutet wie ein Walfisch nach dem Abstechen.«
»Das habe ich gehört, Birgit. Und es ist ein höchst ungebührlicher Vergleich«, kam es aus einem Nebenraum, der zum Krankenzimmer umfunktioniert worden war.
»Er fiebert, will aber nicht schlafen und auch keine Wadenwickel. Hier, sieh selbst, Doktor Andrea!« Sie hatte sich diese recht persönliche Anrede gleich zu eigen gemacht, und Andrea ließ es gern geschehen.
»Wie soll ich schlafen, wenn dauernd Damenbesuch kommt?« Magnus versuchte sich aufzurichten, sank aber mit einem knappen Stöhnen wieder zurück.
»Du wirst wohl nicht schlau, was?« Andrea nickte ihm nur kurz zu, dann beugte sie sich über das Bett. »Lass mal sehen.« Mit einem Ruck zog sie die Decke fort und kontrollierte die Wunde, die sich bereits wieder geschlossen hatte. »Ohne Hilfe rumzulaufen war leichtsinnig«, erklärte sie.
»Ich wollte mich nur mal ordentlich waschen und hab mich dann selbst rasiert. Das kann ich Birgit ja nicht auch noch zumuten. Sie hat schon genug Arbeit mit mir.«
»Welch überraschende Einsicht!« Andrea rettete sich in Ironie, das war ein schon häufig erprobtes Mittel, keine allzu tiefen Gefühle zuzulassen. »Wärst du in die Klinik gegangen, wie es vernünftig gewesen wäre, müsstest du den Leuten hier nicht zur Last fallen. So, und jetzt muss ich los, eine wirklich Kranke wartet auf mich.«
Magnus presste die Lippen fest zusammen. Gern hätte er eine barsche Antwort gegeben, doch leider, leider hatte diese junge Doktorin mit den schönen Augen recht. Sein verdammter Dickschädel war ihm mal wieder zum Verhängnis geworden.
16
A ndrea hatte nicht geahnt, welches Arbeitspensum ihr Kollege Ecklund tagtäglich hinter sich bringen musste. Doch das wurde ihr gleich am ersten Tag bewusst. Es gab chronisch Kranke, die in den weit verstreut liegenden kleinen Ortschaften wohnten und versorgt werden wollten.
Hin und wieder musste die Ärztin sogar mit einem Boot zu einer der kleinen Schäreninseln gefahren werden, um einen Patienten zu behandeln, so wie die alte Lina, deren Tage gezählt waren – und die in Frieden mit sich und der Welt auf den Tod wartete. Sie lag in einem alten, geschnitzten Bett, die weiße Wäsche war mit Hohlsaumstickerei verziert und duftete ein wenig nach Salzwasser und Fisch. Das war auch kein Wunder, erkannte Andrea bald, denn noch nirgendwo hatte sie so viel Stockfisch gesehen wie auf der Inselgruppe Røst. Die alte Lina schaute immerzu hinaus zum Meer und zu den unzähligen Felsen, wo Tausende Vögel brüteten. Ihr faltiges Gesicht wirkte friedlich, seit sie keine Schmerzen mehr hatte.
»Ich hatte ein gutes Leben«, sagte sie und nahm Andreas Hand zwischen ihre rauen, abgearbeiteten Finger. »Jetzt bin ich müde. Mach dir keine Gedanken mehr um mich, alles ist gut.«
Wie Andrea dann drei Stunden später erfuhr, hatte Lina ihren letzten Atemzug getan, kaum dass die Ärztin die kleine Insel verlassen hatte.
Dieser Krankenbesuch war der erste von einigen häuslichen Visiten, die Andrea in den kommenden zwei Tagen absolvierte – und die ihr klarmachten, dass in dieser Gegend wirklich dringend ein Hausarzt gebraucht wurde.
Nur … wie sollte sie auf Dauer den kranken Dr. Ecklund vertreten? Sie musste vorher etliche Formalitäten erledigen lassen, wenn sie offiziell in der Praxis mitarbeiten wollte. Zudem stand ja auch noch gar nicht fest, ob das im Sinn des erkrankten alten Landarztes war.
»Die Behördengänge sind bestimmt kein Problem«, erklärte ihr Birgit, die einen unerschütterlichen Optimismus besaß. »Das lässt sich alles regeln, mach dir deshalb keine Gedanken, Doktor Andrea. Man wird froh sein, dass es eine neue Ärztin gibt, die bereit ist, hier zu arbeiten.«
Doch so einfach, wie sich die Haushälterin die Vertretung vorstellte, war sie nun wahrlich nicht. Andrea fragte sich in den kommenden Tagen immer wieder, warum sie noch blieb – und sich Schwierigkeiten auflud, die sie eigentlich nicht brauchte. Im Grunde machte sie ja hier im hohen Norden Urlaub. Oder … hatte sie diesen Gedanken schon ganz ad acta gelegt? Sie wagte sich die Frage nicht exakt zu beantworten, zumal sich Schwierigkeiten ergaben, die sie daheim in Deutschland nicht bedacht hatte.
Aber damals hattest du ja auch
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