Mittsommersehnsucht
schlechtem Wetter recht gutes Licht garantierte.
Ein zweiter verglaster Raum, der wesentlich kleiner war als das Atelier, war von Evelyn als Wintergarten eingerichtet worden. Hier wuchsen Birkenfeigen und Zimmerpalmen, zwei große, hellrote Geranienbüsche reichten fast bis an die Decke. Seit etlichen Jahren wurden sie von Evelyn mit besonderer Sorgfalt gepflegt, es waren die ersten Geschenke gewesen, die ihr Erik gemacht hatte. Auf einer breiten Holzbank standen Töpfe mit kleinen Rosenstöcken, Gerbera und zart duftendem Jasmin.
Evelyn trat zwei Schritte zurück und schaute kritisch auf die Farbkomposition, die sie auf die Leinwand gebracht hatte. Seit vorgestern arbeitete sie an dem nur fünfzig Quadratzentimeter großen Gemälde, einem abstrakten Kopf, bestehend aus dunkelroten und violetten Dreiecken, die durch breite schwarze Striche unterbrochen wurden.
Die Malerin zuckte zusammen, als das Mobiltelefon klingelte, das sie auf eine kleine Kommode an der Längsseite des Ateliers gelegt hatte. Mit drei Fingern, an denen hellblaue Farbe klebte, angelte sie nach dem Gerät und meldete sich.
»Tom! Das ist ja eine Überraschung!«
»Und ich hoffe, eine gute für dich.« Samtweich klang die Männerstimme mit dem leichten französischen Akzent am anderen Ende der Leitung. »Ich bin ganz in deiner Nähe, Eve.«
»Was bist du?« Evelyn klemmte sich das Telefon zwischen Ohr und Schulter und wischte sich die Hände an einem alten Lappen ab, der leicht nach Terpentin roch.
»Ich bin in Tromsø, aber in zwei Tagen habe ich die Geschäfte erledigt, dann komme ich zu dir.« Jetzt klang die Stimme von Tom Rheenhus knapp und sachlich. »Ich hoffe, du hast ein paar fertige Arbeiten, die ich mir ansehen und eventuell sogar mitnehmen kann.«
»Nun ja, nicht allzu viele neue, ehrlich gesagt. Ich konnte ja nicht ahnen, dass du kommen würdest, Tom.«
»Ich bin gespannt, was du mir zeigen kannst.« Eine kleine Pause entstand, dann fuhr er fort: »Es gibt etliche Interessenten – gerade für deine Landschaftsbilder.«
»Das freut mich.« Evelyn zog sich das breite Stirnband, mit dem sie die roten Haare gebändigt hatte, herunter. »Allerdings arbeite ich gerade an etwas ganz anderem. Landschaften habe ich nur zwei fertig.«
»Das ist gar nicht gut.« Toms Stimme klang ein wenig verärgert. »Ich könnte zwei größere Bilder sofort loswerden. Kannst du dich nicht beeilen?«
»Ich bin doch keine Maschine!« Evelyn legte das Stirnband zur Seite.
»Jetzt reagier doch nicht gleich über, so hab ich es nicht gemeint«, lenkte er sofort ein.
»Schon gut. Wann wirst du in etwa hier sein?«
»Ich nehme übermorgen die letzte Fähre. Bis dann.«
Leicht irritiert legte Evelyn das Telefon auf einen alten Weichholzschrank, in dem sie Farben und Terpentinflaschen aufbewahrte. Dann wandte sie sich wieder ihrer Arbeit zu, doch die Inspiration, die sie vor zwei Stunden noch gehabt hatte und die sie ohne Unterlass hatte malen lassen, war weg. Evelyn war ärgerlich, denn die Störung durch Tom – vor allem aber seine Worte – ging ihr immer wieder durch den Kopf. Was war plötzlich mit ihm los? Warum bedrängte er sie auf einmal? Das hatte er nie zuvor getan. Gerade deshalb hatte sie bislang gern mit ihm zusammengearbeitet. Frustriert legte sie die benutzten Pinsel zur Seite, ehe sie die noch feuchte Leinwand mit einem dünnen Tuch abdeckte.
Den ganzen Abend hindurch musste sie an Toms merkwürdiges Verhalten denken. Der Galerist war erst vor anderthalb Monaten auf den Lofoten gewesen. Was trieb ihn jetzt schon wieder in den Norden? Ihre Arbeiten allein konnten es nicht sein, da war sie sich ganz sicher.
Tom Rheenhus, noch keine vierzig Jahre alt, besaß in Trondheim und Oslo große Galerien, die regen Zuspruch hatten. Der gebürtige Belgier lebte seit gut zehn Jahren in Norwegen und hatte sich als Kunstkenner, aber auch als seriöser Händler einen Namen gemacht. Evelyn war froh, dass er ihre Werke ausstellte. Jede der Vernissagen, die er arrangierte, war ein grandioser Erfolg und bescherte der Malerin nicht nur Ruhm und Anerkennung, sondern auch Geld.
Bevor Evelyn sich ihr Abendbrot zubereitete, ging sie noch einmal hinüber in ihr Atelier und schaute sich die Skizzen an, die sie in der vergangenen Nacht gemacht hatte. Nach einem wilden Alptraum, aus dem sie schweißgebadet erwacht war, hatte sie gezeichnet, was sie geträumt hatte: das weite Plateau des Nordkaps, ein weißes kleines Rentier, zu dessen Füßen ein Kind lag. Ein
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