Mittsommersehnsucht
Ich hatte nur gehofft, mich von ihr verabschieden zu können. Sie hat mir so unendlich leidgetan …«
»Sie ist bei ihrer Familie am besten aufgehoben.« Carina sah durch das große Panoramafenster hinaus aufs Meer, das jetzt, im späten Abendlicht, immer noch von einem hellen Silberglanz überzogen war. Ein zarter, rot-violetter Lichtschein überzog die Wolken am westlichen Horizont, tauchte alles in ein fast magisches, geheimnisvolles Licht. »Die Kleine wird sich bei ihren Eltern bestimmt wohler fühlen als in einem großen Krankenhaus.«
Andrea nickte. »Ganz bestimmt, und deshalb hat man sie wohl auch entlassen. Trotzdem bedaure ich es, sie nicht noch mal gesehen zu haben. Ich habe mal einen klugen Satz gelesen. Er heißt: ›Manchmal begegnen sich zwei Menschen nur im Vorübergehen.‹ Man muss die Worte nicht nur auf eine kurze Liebe beziehen, sie treffen wohl auch in diesem Fall zu.« Gedankenverloren spielten ihre Finger mit der kleinen Trollfigur. Sie war perfekt zu Ende geschnitzt. Die große Nase beherrschte das Gesicht, wirre Haarbüschel waren von dem Schnitzer genauso gut ausgearbeitet worden wie die Augen und der Mund, der zu einem Lachen verzogen zu sein schien. Im Gegensatz zu all den Trollfiguren, die Andrea bisher gesehen hatte, war dieser Troll jung – zumindest gab es keine geschnitzte Falte in seinem Gesicht, das ungewöhnlich gut aussehend war. Allein die Nase und die übergroßen Ohren waren »trolltypisch«, wie Knut es grinsend ausdrückte. Der Seeoffizier konnte die Aufregung, die Andrea beim Fund der kleinen Figur erfasst hatte, nicht nachvollziehen. Sicher hatte der alte Ole einen Steward gebeten, der deutschen Ärztin das Figürchen aufs Bett zu legen.
Carina, der er das zuraunte, fragte später bei dem zuständigen Kabinensteward nach, doch der wusste von nichts. Die Sache blieb also ein wenig rätselhaft, geriet aber, zumindest bei Carina und Knut, rasch wieder in Vergessenheit, denn das Schiff lief am Abend noch den kleinen Ort Mehamn an, ein Fischerdorf, das damit warb, das nördlichste Hotelzimmer auf dem europäischen Festland anzubieten.
Carina eilte vom Schiff, denn sie wollte bei einer guten Bekannten zwei bestellte Pullis abholen. Die alte Ria war eine wahre Künstlerin, ihre weichen, warmen Norwegerpullover besaßen seltene Muster. Bei gutem Wetter hängte sie einige ihrer Modelle an den alten, grün gestrichenen Gartenzaun in der Hoffnung, dass sich Touristen dafür interessierten. Der kleine Garten, in dem außer Büschel von Wollgras im Sommer noch Glockenblumen und kleine gelbe Butterblumen wuchsen, wurde von ihr liebevoll gepflegt. Ihr ganzer Stolz waren stets leuchtend rote Geranien, die sie hegte und pflegte und die ein Blickfang in den großen Trögen neben der Gartentür waren.
Andrea hatte sich gerade einen guten Platz mit perfektem Ausblick gesucht und sich einen Drink bestellt, als Knut auf sie zukam. Er wirkte ernst und angespannt, als er unumwunden erklärte: »Sorry, aber es gibt einen Notfall, Andrea.«
»Wer ist verletzt?«
»Niemand hier an Bord. Aber dein Patient in Stamsund … er kann von dem dort ansässigen Arzt nicht versorgt werden. Der hatte einen schweren Herzinfarkt und liegt in der Klinik.«
»Und jetzt soll ich zurückfahren?«
»Nein. Fliegen. Außer diesem Magnus gibt es noch einen Patienten, der Hilfe benötigt. Und der ist, wie man uns erklärte, nicht transportfähig.« Er streckte ihr die Hand entgegen. »Der Helikopter ist bereits in Kirkenes gestartet und wird gleich hier sein.«
15
D iese unerwartete Reise mit dem Schiff war voller Überraschungen und Aufregungen. Von wegen »beschaulicher Norden«! Von Stille und Beschaulichkeit war nur wenig zu merken, vor allem in dem Moment nicht, da der gelb lackierte Hubschrauber mit lautem Rotorengeräusch auf einem Fußballfeld am Rand des Ortes landete. Der Begriff »Fußballfeld« hatte fast etwas Lächerliches an sich. Es gab keine abgesteckten Punkte; die beiden windschiefen Tore wurden von schweren Felsbrocken halbwegs gerade gehalten. Strafraumlinien oder andere exakt gezogene Begrenzungen, wie man sie normalerweise kannte, gab es nicht. Und doch war dieser Bolzplatz am Ende des Festlandes für die wenigen Jugendlichen des Ortes etwas Besonderes.
Kaum hatte der Pilot die Rotoren gedrosselt, lief Andrea, wie man es ihr gesagt hatte, auf den großen gelben Helikopter zu und ließ sich von einem jungen Burschen, der zum blauen Overall eine abgewetzte schwarzbraune Fliegerjacke
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